Von den Mühen der Regionalisierung

 

Abstract: Das Bildungswesen ist bekanntlich eine beliebte Spielwiese der Politik. “Bologna” und “G 8” lauten die Chiffren für die beiden jüngsten großen Reformvorhaben; selten, vielleicht überhaupt noch nie in der deutschen Bildungsgeschichte sind derart ambitionierte und tiefgreifende Veränderungen so unvorbereitet und dilettantisch angegangen worden. Eine deutsche Spezialität stellt die Kultushoheit der Bundesländer dar. Sie hat im Laufe der Zeit dazu geführt, dass sich in Deutschland höchst unterschiedliche Schulsysteme entwickelt haben.
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1990.
Languages: Deutsch


Das Bildungswesen ist bekanntlich eine beliebte Spielwiese der Politik. “Bologna” und “G 8” lauten die Chiffren für die beiden jüngsten großen Reformvorhaben; selten, vielleicht überhaupt noch nie in der deutschen Bildungsgeschichte sind derart ambitionierte und tiefgreifende Veränderungen so unvorbereitet und dilettantisch angegangen worden. Eine deutsche Spezialität stellt die Kultushoheit der Bundesländer dar. Sie hat im Laufe der Zeit dazu geführt, dass sich in Deutschland höchst unterschiedliche Schulsysteme entwickelt haben.

Regionalisierung im Schulbuch

Aber nicht nur die Strukturen, auch die inhaltlichen Vorgaben für den Unterricht unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland erheblich. Geschichte zählt zu jenen Fächern, in denen die Abweichungen zwischen den jeweiligen Curricula besonders gravierend sind. Schon seit den achtziger Jahren können deshalb die Schulbuchverlage nicht mehr in ganz Deutschland ein und dasselbe Buch verkaufen. Sie müssen „regionalisieren“, also spezielle Ausgaben für die einzelnen Bundesländer anbieten.1 Das ist nicht nur konzeptionell aufwändig, sondern auch ökonomisch schwierig, weil mit kleineren Auflagen kalkuliert werden muss. Eine Folge davon ist, dass für Bundesländer wie das Saarland oder Mecklenburg-Vorpommern kaum noch spezielle Bücher angeboten werden. Gewiss gibt es inhaltliche Unterschiede, die sinnvoll und nachvollziehbar sind, nämlich dann, wenn es tatsächlich um regionale Aspekte von Geschichte geht: Die “Römer am Rhein” sind für Rheinland-Pfalz bedeutsamer als für Brandenburg, umgekehrt steht es mit der slawischen Siedlungsgeschichte. Beim Thema Industrialisierung liegt in Nordrhein-Westfalen das Beispiel Krupp nahe, in Berlin eher Borsig. Davon abgesehen gibt es aber eine Vielzahl von unterschiedlichen Akzentuierungen, die eher beliebig anmuten und im Einzelfall vielleicht besonderen Interessen und Neigungen innerhalb von Lehrplankommissionen geschuldet sind.

Nützliche Standardisierung?

Neben die divergierenden inhaltlichen Vorgaben sind in jüngerer Zeit noch andere Abweichungen getreten. Alle neuen Curricula verstehen sich als kompetenzorientiert. Sie weisen Kompetenzmodelle mit einzelnen Kompetenzbereichen aus, wobei sie sich mal mehr, mal weniger auf geschichtsdidaktische Vorarbeiten beziehen. Ein zweiter Punkt sind die Operatoren. Ausgehend von den durch die KMK definierten EPA2 enthalten die meisten neueren Curricula auch für die Sekundarstufe I Listen von Operatoren, die den Lehrkräften zur Orientierung dienen sollen – und natürlich zugleich eine Vorgabe für die Verlage darstellen.3 Beides, Kompetenzorientierung und Operatorenvorgaben, ist prinzipiell eigentlich eine positive Entwicklung. Freilich fallen auch hier erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern ins Auge. Sie führen dazu, dass Verlage Regionalisierungen jetzt nicht nur in Bezug auf Inhalte, sondern auch auf die Bezeichnung von Kompetenzen und die Verwendung von Operatoren vornehmen müssen. So finden wir beispielsweise im aktuellen Curriculumentwurf für das Gymnasium in Baden-Württemberg die Kompetenzbereiche Fragekompetenz, Methodenkompetenz, Orientierungskompetenz, Reflexionskompetenz und Sachkompetenz aufgeführt.4 Im niedersächsischen Entwurf gibt es zunächst eine übergeordnete narrative Kompetenz, darunter dann die Bereiche Sachkompetenz, Methodenkompetenz und Urteilskompetenz, ergänzt durch Fachwissen.5 In Rheinland-Pfalz sind vorgesehen Fachkompetenz, Methodenkompetenz, Kommunikationskompetenz und Urteilskompetenz.6

Babylonische Verhältnisse

Am ehesten Übereinstimmung gibt es bei der Methodenkompetenz, bei der es in allen Fällen gewissermaßen klassisch um den adäquaten Umgang mit Quellen und Darstellungen geht. Ansonsten finden sich nicht nur unterschiedliche Benennungen, sondern auch abweichende Beschreibungen der einzelnen Bereiche.Was in Baden-Württemberg unter die Fragekompetenz gehört, würde in Rheinland-Pfalz wohl zur Methodenkompetenz zählen. Was in Niedersachsen und in Rheinland-Pfalz eher knapp unter der Urteilskompetenz angedeutet wird, entfaltet das baden-württembergische Curriculum breiter unter Orientierungskompetenz. Ähnlich steht es mit der baden-württembergischen Reflexionskompetenz. Keine Entsprechung in den anderen Ländern hat die Kommunikationskompetenz aus Rheinland-Pfalz. Ähnliche Verwerfungen gibt es bei den Operatoren. Ein Vergleich zwischen Baden-Württemberg und Niedersachsen zeigt, dass zum Teil ganz unterschiedliche Operatoren vorgesehen sind: “Bezeichnen”, “schildern”, “skizzieren”, “gliedern”, “wiedergeben”, “zusammenfassen”, “untersuchen”, “nachweisen”, “gegenüberstellen”, “in Beziehung setzen”, “widerlegen”, “diskutieren” und “interpretieren” gibt es nur in Niedersachsen, dafür bietet Baden-Württemberg “erstellen” und “gestalten” an. Einige Operatoren werden unterschiedlichen Anforderungsbereichen zugeordnet: “Herausarbeiten” und “charakterisieren” gehören in Baden-Württemberg in AFB I, in Niedersachsen in AFB II. “Darstellen” ist in Niedersachsen übergreifend von AFB I bis III gedacht, in Baden-Württemberg steht es in AFB II.

Bildungspluralismus als Herausforderung

Nun mag man – insbesondere im Hinblick auf die Kompetenzmodelle – einwenden, dass es ja schließlich auch die Geschichtsdidaktik nicht geschafft hat, sich auf ein einheitliches Konzept zu verständigen. Warum sollte man dies dann von den LehrplanmacherInnen erwarten und verlangen? Dieser Einwand ist sicherlich berechtigt. Allerdings haben Curricula eine unmittelbare Regelungswirksamkeit – oder sollen sie zumindest haben. Deshalb gilt es auch sehr sorgfältig darüber nachzudenken, wie verständlich, akzeptabel, orientierend und handlungsleitend sie für Lehrkräfte sein können – und vielleicht eben auch für SchulbuchmacherInnen, die Dienstleistungen für Lehrkräfte erbringen sollen. Weniger Varianzen zwischen den Bundesländern wären dabei hilfreich und könnten zu einer intensiveren Verständigung über Ländergrenzen hinweg (etwa auch im Bereich der Lehrerbildung) beitragen. Zugestanden: Eine genauere Abstimmung untereinander ist nicht leicht zu bewerkstelligen – ein erster Schritt immerhin wäre eine systematische wechselseitige Kenntnisnahme, die im Moment noch gar nicht stattzufinden scheint.

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Literaturhinweise

  • Bredol, Martin: Regionalisierung – Zauberformel oder Fluch? Die Entwicklung von Geschichtslehrwerken aus der Sicht eines Schulbuchverlages. In: Geschichte lernen H. 28 (1992), S. 4–7.
  • Landesinstitut für Schulentwicklung Baden-Württemberg: Geschichte Orientierungsstufe, Arbeitsfassung zur Erprobung, Stuttgart 2013 (online, zuletzt am 28.4.2014).

Webressourcen

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Abbildungsnachweis

© Marco Zerwas

Empfohlene Zitierweise

Sauer, Michael: Von den Mühen der Regionalisierung. In: Public History Weekly 2 (2014) 18, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1990.

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  1. Vgl. Bredol, Martin: Regionalisierung – Zauberformel oder Fluch? Die Entwicklung von Geschichtslehrwerken aus der Sicht eines Schulbuchverlages. In: Geschichte lernen H. 28 (1992), S. 4–7.
  2. Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Geschichte; Beschluss der KMK i. d. F. vom 10.02.2005: http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1989/1989_12_01-EPA-Geschichte.pdf (zuletzt am 13.05.2014)
  3. Z.B. im niedersächsischen Lehrplan für die Sek I im Anhang A4. http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_gym_gesch_08_nib.pdf (zuletzt am 13.05.2014)
  4. Landesinstitut für Schulentwicklung Baden-Württemberg: Geschichte Orientierungsstufe, Arbeitsfassung zur Erprobung, Stuttgart 2013: http://www.bildung-staerkt-menschen.de/service/downloads/arb/SekI_G_OS_les.pdf (zuletzt am 13.05.2014)
  5. Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium Schuljahrgänge 5-10, http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_gym_gesch_08_nib.pdf (zuletzt am 13.05.2014)
  6. Entwurfsfassung vom 16.01.2012, noch nicht in der offiziellen Lehrplansammlung des Landes Rheinland-Pfalz online gestellt.

Categories: 2 (2014) 18
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1990

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  1. Babylonische Verhältnisse im Bildungswesen?

    Auch in der Schweiz weiss man davon ein Lied zu singen. Harmonisierungsbestrebungen enden indes nicht immer glücklich.

    Ein Markenzeichen der Schweizer Bildungslandschaft ist ihre Vielfalt. Wichtiger Grund hierfür ist die Hoheit der Kantone im obligatorischen Schulwesen. Sie wurde in der Bundesverfassung von 1848 festgeschrieben, gilt bis heute und hat im Laufe der Zeit nur wenige Einschränkungen erfahren. Bei 26 Kantonen, die sich notabene über vier Sprachregionen erstrecken, ergibt dies eine ziemlich komplizierte Gemengelage, die – je nach Standpunkt – bald als Ausdruck eines überholten “Kantönligeists” verspottet, bald als Zeichen staatspolitischer Weisheit gelobt wird. Doch obwohl die Unterschiede zwischen den kantonalen Bildungssystemen teilweise markant sind, hat sich selbstverständlich, wie anderswo, eine gemeinsame “Grammar of Schooling” etabliert. Beispielsweise kommen in allen Kantonen im Geschichtsunterricht Schulgeschichtsbücher zum Einsatz, wenn auch nicht überall die selben. Diese Schulbücher gleichen sich untereinander und sind nicht vollkommen anders als deutsche oder französische.

    Inspiriert von der Curriculum-Bewegung der 1970er Jahre ging man überall dazu über, Lehrpläne neu zu konzipieren und Lernziele zu formulieren. Seit einiger Zeit wird überall mit grosser Selbstverständlichkeit von Kompetenzen gesprochen und betont, wie wichtig es sei, Schulunterricht kompetenzorientiert zu gestalten. Es ist also nicht so, dass sich die Kantone in ihrer Schulpolitik voneinander entfernen würden. Im Gegenteil: Sie bewegen sich aufeinander zu. Es geschieht dies im Wesentlichen über zwei Mechanismen: 1. Über die gegenseitige Beobachtung: Man schaut, was die andern machen, und kupfert voneinander ab. 2. Über Verträge (Konkordate) zwischen den Kantonen. Koordinierendes Gremium ist dabei die “Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren” (EDK). Ihre Befugnisse sind allerdings eng begrenzt. Denn wichtige Beschlüsse müssen – von Kanton zu Kanton unterschiedlich – in den kantonalen Parlamenten oder in Volksabstimmungen bestätigt werden. Das System ist damit zwar nicht unbeweglich, aber träge – für “Reformturbos” ein einziger Albtraum.

    Diese systembedingte Trägheit, die einer raschen interkantonalen Harmonisierung über Konkordate im Wege steht, hat in der Vergangenheit kaum Schaden angerichtet. Im internationalen Vergleich steht das Schweizer Bildungswesen jedenfalls gut da, auch kam es nicht zu größeren Verwerfungen, wie sie aus ungebremstem Reformeifer zuweilen resultieren. Umgekehrt haben die Bemühungen der EDK, die seit einiger Zeit in Sachen interkantonaler Harmonisierung eine deutlich aktivere Rolle spielt als früher und “vorwärts” machen will, eine sehr zwiespältige Bilanz hervorgebracht. Ein Beispiel der problematischen Art ist das Reformprojekt “Lehrplan 21”, dessen Ziel es ist, für die deutschsprachigen Kantone einen gemeinsamen Lehrplan einzuführen, der – selbstredend – kompetenzorientiert zu sein hat. In Bezug auf Geschichte ist das Resultat deprimierend. Dem Fach wurde auf Geheiß “von oben” ein äußerst kurioses Kompetenz-Konzept auferlegt, und zwar einfach deshalb, weil die Projektleitung nicht nur interkantonal harmonisieren, sondern im gleichen Aufwisch auch noch ganz unterschiedliche Schulfächer auf gleichen Kurs bringen wollte. “Kompetenz” wurde zur diffusen Harmonisierungs- und Fortschrittsformel. Man tat so, als sei der Begriff “Kompetenz” ein Gütesiegel, das alles adelt, dem es aufgedrückt wird: Hauptsache Kompetenz. Was sich im Einzelfall dahinter verbirgt, interessiert auf bildungspolitischer Ebene kaum jemanden.

    Man kann und soll sich darüber ärgern. Allerdings wäre die geschichtsdidaktische Community gut beraten, öfter einmal innezuhalten und ihr Tun aus Distanz selbstkritischer zu reflektieren, als dies wohl häufig der Fall ist. Denn dass fachfremde Personen mit den von Expertinnen und Experten ins Spiel gebrachten Kompetenz-Konzepten für Geschichte (und andere Fächer) zuweilen sehr salopp umgehen, hat u.a. damit zu tun, dass diese allesamt reichlich sperrig sind und teilweise schlicht nicht einleuchten. Kommt dazu, dass die ins Kraut schiessenden, mit dem Wort “Kompetenz” gebildeten Komposita vielen als blutleer und austauschbar erscheinen, ohne Bezug zu fassbaren, übergeordneten Bildungsideen. Oberstes Ziel des “Lehrplans 21” scheint der kompetent problemlösende Mensch zu sein – keine sympathische Vorstellung. Wieweit dieser Mensch, der Schule einmal entwachsen, auf seinem Lebensweg je historische Methodenkompetenz oder narrative Kompetenz brauchen wird, bleibt ungewiss. Vielleicht müsste sich die Geschichtsdidaktik wieder mehr darum bemühen, sichtbar und verständlich zu machen, inwiefern einzelne, als fachspezifisch deklarierte Kompetenzen (oder Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Denkbewegungen etc.) zur Erfüllung übergeordneter Bildungsziele beitragen können, oder inwiefern historische Bildung auch jenseits des direkt Verwertbaren eine Bereicherung ist. Denn einleuchtende, verständlich dargestellte Konzepte würden auch außerhalb eines kleinen Kreises von Eingeweihten vermutlich noch so gerne zur Kenntnis genommen.

    Vgl. hierzu auch die folgenden Beiträge in PHW:

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