Germanen willkommen! Von Barbaren und dem Mittelalter

 

Abstract: Germanen oder die Beschäftigung mit ihnen ist nichts, was man unmittelbar mit zeitgenössischen Anforderungen an Lehre in Verbindung bringt. Im Gegenteil scheint der Weg in unaufgeklärte Mythenbildung, okkulten Romantizismus und Antimodernismus vorprogrammiert. Zeit für einen Epochenwandel.
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1809.
Languages: Deutsch


Germanen oder die Beschäftigung mit ihnen ist nichts, was man unmittelbar mit zeitgenössischen Anforderungen an Lehre in Verbindung bringt. Im Gegenteil scheint der Weg in unaufgeklärte Mythenbildung, okkulten Romantizismus und Antimodernismus vorprogrammiert. Zeit für einen Epochenwandel. 

Alltagspräsenz und Unterrichtsabwesenheit

Irgendwie scheinen sie unsterblich zu sein, diese Germanen. Kaum ein Jahr vergeht, ohne dass sie nicht den Titel einer Zeitschrift zieren. Ein eigenartiger Kult scheint zu bestehen um die über 2000 Jahre alte Hermanns- oder Varus-Schlacht – man begeht Jubiläen und sucht noch immer das Schlachtfeld. Eine Art trotziger Stellungnahme gegen die Moderne scheint auch hinter den von Jugendlichen immer wieder getragenen (pseudo-)germanischen Schmuckstücken zu stecken, deren Träger keinesfalls auf einen rechtsradikalen Kreis einzugrenzen sind. Nur an einer Stelle sind die Germanen auf dem Rückzug: In den Schulbüchern finden sich nicht mehr die detaillierten Karten mit schwierig auszusprechenden Stammesnamen; es bleiben Randnotizen, die das früher so dramatisierte “Ende Roms” nur antippen. Die Plünderung Roms im Jahre 410 ist ebensowenig Thema wie Alarich, Odoaker und Totila. Auch die Rezeptionsgeschichte bleibt blass: Platens “Grab im Busento” rezitiert niemand mehr, und wo ist noch der Sagenkreis um Dietrich von Bern präsent? Über das Germanenbild der Nationalsozialisten erfährt man auch nichts Genaues – aber die Germanen werden schon düster und unmenschlich gewesen sein, wenn die Nazis sie mochten.,1 Eigenartig undifferenziert bleiben unsere anscheinend unausrottbaren Vorstellungen von geistig wenig beweglichen, Lendenschurz tragenden Biertrinkern mit Hang zu Brutalität und obskuren Ritualen.

Perspektivenwandel der Forschung

Ja, geraten sie denn nicht zu Recht in Vergessenheit? Warum einem historischen Intermezzo hinterher jagen, das zwar im Mittelalter Spuren hinterlassen hat, heute aber exotisch scheint? Das Thema “Germanen” zu ignorieren wäre natürlich der bequeme Ausweg, durch den die Tendenz befördert würde, “Geschichte” auf Sachverhalte zu reduzieren, die ohne großen Denkaufwand dem Menschen der Moderne einleuchten. Zudem wäre es verschenktes Lernpotential, denn mit ein wenig Mühe lässt sich gerade hier eine Vielzahl von Beobachtungen machen, die wesentliche historische Zusammenhänge verdeutlichen. Dazu ist ein Blick auf die Forschungslage hilfreich – das mag im vorliegenden Fall noch ein wenig beschwerlicher sein als sonst. Viele alte Gewissheiten sind ins Wanken geraten. War man sich früher noch sicher, dass man mit den Germanen einen einheitlichen, schriftlich wie archäologisch sicher fassbaren Gegenstand vor sich hatte, so streitet die Forschung heute schlichtweg ab, dass es ein Volk der Germanen gab.2 Dementsprechend fordert man jüngst gar einen Verzicht auf den Begriff “germanisch” außerhalb der Sprachwissenschaft. Die von uns so genannte Sprachwurzel bestand zwar, aber soziale, politische oder gar “ethnische” Zusammenhänge lassen sich daraus nicht ableiten.3

Ein geändertes Narrativ

Was es gab, waren verschiedene Siedlungsgemeinschaften nordöstlich der Grenzen des römischen Imperiums, die von den Römern pauschal die Bezeichnung “Germanen” erhielten. Die unbeständige Entwicklung des Imperiums in der Kaiserzeit führte nun zu einer äußerst wechselhaften Politik gegenüber diesen zugleich als kulturlose “Barbaren” diffamierten Anwohnern: Bei Bedarf importierte und integrierte man Fachkräfte (ins Militär), ansonsten grenzte man aus oder betrieb Politik im Umfeld, sei es durch die Förderung genehmer Parteiungen oder aber durch direkte “friedensstiftende” Intervention. So erzählt sind die Parallelen zu politischen Konstellationen anderer Zeiten sehr deutlich. Auf die Dauer führte dieses römische Verhalten zu verstärkter Migration und Konfliktbereitschaft, die durch weiter entfernte, sich aber rasant nähernde Konflikte noch zunahm. Die einsetzende “Völkerwanderung” mit ihren Konflikten um Ressourcen machte die Siedlungsgruppen zu Wanderungsgemeinschaften und formte so erst die “ethnischen” Einheiten, als die sie die Römer (aus mangelndem Interesse) immer schon betrachtet hatten. Als “selbsterfüllende Prophezeiung” wird die Geschichte der Zeitenwende so zu einer Parabel für die Macht des Wortes und der Vorstellungen, zugleich aber auch zu einem Lehrstück in Sachen Wahrnehmung des Fremden, Migration und Integration.

Volk, “Rasse”, Mythos

Zugegeben: Auch diese Perspektive beruht auf Forschung, deren Sichtweise zeitgebunden ist, und dies in einem Maße, dass die Parallelen zur Gegenwart mit Händen zu greifen sind. Gerade in diesem Überschwang aber bietet sich eine weitere Möglichkeit der Reflexion, nämlich hinsichtlich der Perspektivgebundenheit historischer Betrachtung. Auch das “Germanenbild” kann dazu dienen, das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu verdeutlichen.4 Auch SchülerInnen sollten begreifen, warum “die Germanen” dem romantischen, nach nationaler Selbstbestimmung strebendem Deutschland als “Volk” galten, den Nationalsozialisten für ihre “Volksgemeinschaft” hingegen als “Rasse”5 – und warum wir heute deutlich andere Perspektiven einnehmen.

Germanen und Mittelalter

Bekanntlich, dies zum Schluss, läutete ja der “Germanensturm” die düstere Epoche des Mittelalters ein, das sich gemäß einer alten Formel als Mischung von germanischen und römischen Elementen unter christlichen Vorzeichen verstehen lässt. Unter solchen Voraussetzungen entstand das Mittelalter nicht schlagartig als dunkle Zeit, sondern als Epoche von Krisen, bestimmt durch permanente und kontingente Veränderungen, was pragmatische Lösungen für aktuelle Probleme erforderte und wenig Raum ließ für längerfristige Orientierungen. In diesem Sinne rückt es uns wieder näher, dieses Mittelalter. Und vielleicht kommt so doch einmal eine Diskussion in fachdidaktischer Hinsicht zustande, und in der Folge dann auch wieder einmal das eine oder andere Element in den Lehrplan. Also: Germanen willkommen – dann klappt’s auch mit dem Mittelalter.

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Literaturhinweise

  • Geary, Patrick J.: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2002.
  • Jarnut, Jörg: Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung. In: Pohl, Walter (Hrsg.): Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, Wien 2004, S. 107-113.
  • Pohl, Walter: Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration. 2. Aufl., Stuttgart u.a. 2005.

Webressourcen

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Abbildungsnachweis

Ausschnitt aus Friedrich Tüshaus: Die Schlacht zwischen Germanen und Römern am Rhein (1876). Quelle: Wikimedia Commons.

Empfohlene Zitierweise

Lubich, Gerhard: Germanen willkommen! Von Barbaren und dem Mittelalter. In: Public History Weekly 2 (2014) 18, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1809.

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  1. Berühmt-berüchtigt dafür die Wewelsburg siehe Schulte, Jan Erik: Himmlers Wewelsburg und der Rassenkrieg. Eine historische Ortsbestimmung. In: ders. (Hrsg.): Die SS, Himmler und die Wewelsburg. Paderborn 2009, S. 3-22.
  2. Vgl. diesen zum Handbuchwissen gewordenen Erkenntnisstand bei Wolfram, Herwig: Die Germanen, 9. Aufl., München 2009, dessen Forschungen über die Goten eine bedeutende Zäsur in der Germanenforschung darstellen.
  3. Jarnut, Jörg: Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung. In: Pohl, Walter (Hrsg.): Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, Wien 2004, S. 107-113.
  4. Zum Überblick vgl. Münkler, Herfried: Die Sittlichkeit der Hinterwäldler. Tacitus und der frühe Germanenmythos. In: ders.: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin 2009, S. 149-163.
  5. Zur Entstehung der rassistischen Germanenrezeption im 19. Jahrhundert vgl. Wiwjorra, Ingo: Der Germanenmythos, Darmstadt 2006, S. 197-342.

Categories: 2 (2014) 17
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1809

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2 replies »

  1. Ob mit oder ohne “Germanen” – “es klappt mit dem Mittelalter”, wenn wir es richtig unterrichten!

    Geschichte beruht auf Retrospektion. Die Fülle des historisch Geschehenen lässt sich erkenntnistheoretisch nur unter bestimmten Perspektiven fassen. Diese Perspektiven aber sind notgedrungen zeitgebunden. Das gilt auch für historische Begrifflichkeit. Sie überlebt sich. Und das ist gut so.

    Begriffswandel als Perspektivenwandel

    Wie Vergangenheit perspektiviert wird, hängt bekanntlich von der Gesellschaft ab, die diese in den Blick nimmt. Statt der “Germanen” ließen sich im Bereich der Mediävistik unzählige andere Themen finden, die nicht verschwunden, aber terminologisch, inhaltlich und methodisch neu und anders gefasst wurden. Die moderne Mediävistik ist offener, vielfältiger und reicher geworden. Das hat mit dem Erkenntnisfortschritt, aber auch mit veränderten historisch-politischen Konstellationen zu tun.
    Wer spricht heute noch von “Völkerwanderung”, von “Ostkolonisation”, vom “deutschen Staat des Mittelalters” (Georg von Below) usw.? Die historischen Phänomene sind noch da, aber die Begriffe zu deren Erfassung wurden teilweise ausgetauscht, weil sie sich als sachlich unangemessen oder als ideologische Konstrukte erwiesen haben, die Erkenntnis weniger ermöglichen als verhindern. Denn die Begriffe haben, wie sich leicht nachweisen lässt, weniger mit der Vergangenheit als mit der Gegenwart der Begriffsschöpfer und deren Intentionen zu tun.

    Die “Germanen”, so ließe sich konstatieren, befinden sich deshalb zu Recht auf dem Rückzug “in den Schulbüchern”, weil es sie historisch nie gegeben hat. Warum an der Schule etwas unterrichten, was es nie gab? Was es gab, waren lediglich Germanenbilder und Germanenmythen, die aus bestimmten Gründen ventiliert, evoziert und tradiert wurden. Und erst hier beginnt die Ermöglichung dessen, was wir als historisches Denken bezeichnen.

    Ermöglichung historischen Denkens

    Wenn ich die Ziele der Geschichtsdidaktik richtig verstanden habe, geht es doch u.a. auch darum, solche klassischen Themen als zeitabhängige Konstrukte und Imaginationen zu durchschauen. Wir behandeln im Unterricht also nicht die “Germanen”, sondern fragen uns, wie, wann, warum und von wem dieser absichtsvolle Mythos lanciert und konstruiert wurde.

    Wenn ich recht sehe, lässt sich eine erste Phase der Mythenbildung, wenn man von den Römern einmal absieht, im Zeitalter des Humanismus feststellen. Im Spätmittelalter kündigt sich bereits der moderne Begriff der Nation an. Das gilt für die Universitäten (die in Nationen gegliedert waren), die Reformkonzilien (die nach Nationen abstimmten) und die zeitgenössischen kriegerischen Auseinandersetzungen (etwa zwischen England und Frankreich). Aus dem pränationalen wird sukzessive der nationale Begriff der Nation, wie wir ihn aus dem ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert kennen. Es gab also durchaus einen Grund, ein “einheitliches Volk der Germanen” als Vorläufer der deutschen Nation zu imaginieren.

    Die Genese von Narrativen

    Das Problem sind also nicht die “Germanen”, sondern das spezifische Bewusstsein, das sie als historisches Konstrukt hervorbringt. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie wir überhaupt mit mittelalterlicher Geschichte, seien es die “Germanen”, die “Staufer”, die “Kreuzfahrer”, die “Templer”, die “Pilger” usw. umgehen. Natürlich muss man wissen, dass es (auf der Ebene der res gestae) einmal etwas gab, das man (angemessen oder unangemessen) als “Germanen” bezeichnet hat. Aber nicht die res gestae (history as event), sondern die historia (history as account) ist die Ebene, auf der wir uns als Lehrerinnen und Lehrer bewegen.

    Das epistemologische bzw. terminologische Problem ist die Subsumtion des letztlich unfassbaren Phänomens, d.h. die Frage, wie das Narrativ entstanden ist, das den Gegenstand (nämlich die “Germanen”) erzeugt hat. Geschichte handelt bekanntlich nicht nur von “Fakten”, sondern auch von Vorstellungen, Mythen und Legenden, die die angeblichen Fakten häufig allererst im Nachhinein hervorgebracht haben.

    Geschichte als Sprachfach

    Hinzu kommt die Erkenntnistheorie unseres Faches: Geschichte ist ja kein Sach-, sondern ein Sprachfach. Wer hier widerspricht, möge sich überlegen, was unsere “Sachen” eigentlich sind. Geschichte ist Text. Das heißt aber: Wir sind stets gezwungen, das, was wir von den Quellen her historisch erkennen, in Sprache bzw. in Worte zu fassen. Diese Worte bleiben aufgrund ihres Allgemeinheitscharakters stets hinter dem, was sie beschreiben wollen, nämlich Singularität, zurück. “Wir können nicht sagen, was wir meinen”, wie das Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1807 formuliert hat.

    Insofern ist der Germanenbegriff – wie alle historischen Begriffe – ein vorläufiger Begriff. Dass er durch andere Begriffe oder Themen ersetzt wird, ist für wissenschaftliches Denken, das sich als Forschung begreift, selbstverständlich und nicht zu beklagen. Fernand Braudel hat Begriffe, die ja eigentlich Modelle zur Erfassung historischer Wirklichkeit sind, einmal mit Schiffen verglichen, die er aufs Wasser setzt. “Der Schiffbruch ist immer der bedeutsamste Augenblick”.

    Die “Germanen” haben “Schiffbruch erlitten”

    Die Germanen, so könnte man mithin resümieren, haben zu Recht “Schiffbruch erlitten”. Sie sind (als Begriff) durch das moderne historische Bewusstsein wegrationalisiert worden, mögen sie in der populären Geschichtskultur auch weiterhin existieren. Deshalb sind nicht die “Germanen” im Lehrplan willkommen. Denn laut neuester Forschung hat es sie ja gar nicht gegeben. Willkommen dagegen ist die Frage nach der Funktion dieses Mythos in der europäischen und (vor allem der) deutschen Geschichtswissenschaft, – vielleicht auch, warum wir heute diesen Mythos – aber dafür viele andere – offenbar nicht mehr nötig haben.

  2. Archäologie und Geschichtswissenschaft
    Die ‘Germanen’, so bemängelt Gerhard Lubich, sind aus dem Schulalltag verschwunden – und das trotz ihrer Alltagspräsenz. Sein Vorschlag, sie wieder in den Schulunterricht “aufzunehmen”, kann nur begrüßt werden, ganz besonders aus einer archäologischen Perspektive, die von geschichtsdidaktischer Seite leider immer wieder vernachlässigt wird. Das zeigen sowohl Lubichs als auch die Ausführungen Thomas Martin Bucks. Beide bleiben doch allzu sehr der geschichtswissenschaftlichen und damit auf Schriftquellen fußenden Sicht verpflichtet. Doch die Geschichte der ‘Germanen’ kann nicht ohne die archäologischen Quellen, also die materiellen Zeugnisse geschrieben werden. Dies gilt nicht nur für die ‘Germanen’, sondern generell. Urgeschichtliche und historische Quellen spiegeln verschiedene Aspekte der Vergangenheit, weshalb eine Zusammenarbeit von Geschichtswissenschaft und Archäologie gerade in frühgeschichtlichen Kontexten mehr denn je notwendig ist.[1] Es ist ein Missverständnis, Geschichte als Sprachfach im Sinne von “Geschichte ist Text” zu beschreiben. Sind die verschiedenen archäologischen Fächer denn keine historischen Fächer? Lässt sich Geschichte denn nicht mithilfe der materiellen Kultur schreiben? ArchäologInnen sind natürlich GeschichtsforscherInnen, nur ihre Quellen sind andere und damit ist auch ihr erkenntnistheoretischer Zugang ein anderer, weshalb man die verschiedenen Archäologien auch als Historische Kulturwissenschaften bezeichnen kann.[2]

    Mehrwert der ‘Germanen’
    Die konstatierte Unterrichtsabwesenheit der ‘Germanen’ ist auch für die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie ein Unglück, zumal archäologische bzw. ur- und frühgeschichtliche Themen in den Geschichtsschulbüchern, und bei vielen GeschichtsdidaktikerInnen und -lehrerInnen allemal, einen schweren Stand haben und recht stiefmütterlich behandelt werden. Es scheint sich allerdings eine Wende abzuzeichnen, jedenfalls was die Präsenz der ‘Germanen’ im Schulbuch betrifft; in jüngeren Lehrwerken erfahren sie offenbar eine deutlich stärkere Berücksichtigung.[3] Das ist aber nicht gleichbedeutend damit, dass sie auch realiter im Geschichtsunterricht Eingang finden und dort überkommene Darstellungstraditionen aufgebrochen werden.
    Selbstverständlich sind ‘die’ Germanen ein historisches Konstrukt, sie deswegen aber “wegzurationalisieren” bzw. diese “Wegrationalisierung” einfach hinzunehmen, so verstehe ich jedenfalls Thomas Martin Buck, erscheint dann doch etwas zu einfach. Denn über das Thema ‘Germanen’ lassen sich im Geschichtsunterricht, was Autor und Kommentator teilweise erwähnt haben, verschiedene Aspekte behandeln: von der Darstellung der archäologischen Arbeitsweise und dem Erkenntniswert materieller Zeugnisse über den Germanenbegriff und die Germanenideologie in der NS-Zeit bis hin zum Ge- und Missbrauch ‘germanischer’ Symbole – nachdem geklärt wird, was man denn darunter zu verstehen hat – in der heutigen Alltagskultur und der Wiederbelebung historischer Szenarien durch Living History-Gruppen; erwähnt werden müssen auch vermeintlich ‘germanische’ Praktiken etwa durch neopagane Gruppierungen (sog. ‘Neogermanen’) sowie die Instrumentalisierung der ‘Germanen’ durch rechtsextreme Kreise. Vieles mehr ließe sich noch anführen – der Germanenmythos gehört selbstverständlich dazu.

    Plädoyer für ‘Germanen’
    Die ‘Germanen’ sind also durchaus im Lehrplan willkommen, gerade weil sie in der populären Geschichtskultur so präsent sind und sie in zumeist völlig unreflektierter Weise rezipiert werden. Auf den Begriff ‘Germanen’ zu verzichten bzw. ihn zu ersetzen wäre außerdem ein falsches Signal; er muss nicht ersetzt werden, er muss vielmehr in diachroner Perspektive kontextualisiert, kritisch reflektiert und dekonstruiert werden. Darin sehe ich die Aufgabe eines modernen und kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts.

    Anmerkungen
    [1] Burmeister, Stefan / Müller-Scheeßel, Nils (Hrsg.): Fluchtpunkt Geschichte. Archäologie und Geschichtswissenschaft im Dialog, Münster u.a. 2010.
    [2] Eggert, Manfred K.H.: Archäologie: Grundzüge einer Historischen Kulturwissenschaft, Tübingen, Basel 2006.
    [3] Sénécheau, Miriam: Die Germanen sind wieder da: Archäologische, didaktische und gesellschaftspolitische Perspektiven auf ein altes Thema in neuen Lehrwerken, in: Archäologische Informationen 35, 2012, S. 219–234.

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