Zeitverkauf

© Michele Barricelli, Royal Mills in Manchester: Appartment for Sale

 

Abstract: Geschichte wird gemessen, gezählt, gedeutet, erzählt. So verpackt, dient sie sehr unterschiedlichen Zwecken: zur Orientierung der Zeitgenossen in ihrer Gegenwart, für den Druck in Hochglanzmagazinen, als fein abgewogene Ware. Mal gibt es zu viel von ihr, mal zu wenig, zuweilen ist sie veraltet, dann wieder aufregend neu. Lesen Sie, wie sich die Geschichtsdidaktik in diesem Geschäft mit vielen Konkurrenten schlägt.
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-126.
Languages: Deutsch


Geschichte wird gemessen, gezählt, gedeutet, erzählt. So verpackt, dient sie sehr unterschiedlichen Zwecken: zur Orientierung der Zeitgenossen in ihrer Gegenwart, für den Druck in Hochglanzmagazinen, als fein abgewogene Ware. Mal gibt es zu viel von ihr, mal zu wenig, zuweilen ist sie veraltet, dann wieder aufregend neu. Lesen Sie, wie sich die Geschichtsdidaktik in diesem Geschäft mit vielen Konkurrenten schlägt.

Konkurrenzen

Eines der wesentlichen Versprechen der Geschichtsdidaktik an die Geschichtslernenden ist die Orientierung in der Gegenwart durch Zeiterfahrung. Das Angebot ist freilich nicht konkurrenzlos. So hatte ich kürzlich ein ganz eigenes Zeiterlebnis in jenem Organ, das hierzulande zumindest einer geschmacklich gebildeten Intelligenz beim Denken die Richtung weist, dem Zeit-Magazin. Dort bewarb die Firma Rolex ihre exquisiten Armbanduhren, die an den Gelenken von „testimonials“ wie Martin Luther King, Sophia Loren oder Roger Federer prangten. Die rhetorische Frage „Warum diese Uhr?“ wurde so beantwortet: „Sie war Zeitzeugin. Sie war dabei, als Worte gesprochen wurden, die ganze Nationen bewegten. Als Menschen über sich selbst hinauswuchsen.“ Dann in Fettdruck: „Sie zählt nicht nur die Zeit. Sie erzählt Zeitgeschichte.“ Ich dachte mir: Welch freisinniger Umgang mit Begriffen und Werten meiner Disziplin! Als Geschichtsdidaktiker fühlte ich mich herausgefordert.

Manchester, zum Beispiel

Das Heft las ich auf dem Rückflug von einem Besuch des englischen Manchester, was nicht ohne Wirkung auf meine Gedankengänge blieb. Schließlich ist Großbritannien ein Land von großem historischem Bewusstsein (während zugleich der Geschichtsunterricht mindestens so im Argen liegt wie in Deutschland, weshalb man ihn auf der Insel schon in der Mittelstufe abwählen darf). Während meines Aufenthalts war ich in einer Image-Broschüre der Stadt zwischen tausend Empfehlungen für stilvolles Essen, beglückendes Shopping oder erfolgreiches Investment auf einen ehrgeizigen Abriss zum, wie es in den angelsächsischen Ländern heißt, local heritage gestoßen. Tatsächlich häufen sich ja in Manchester menschheitsgeschichtliche Highlights in erstaunlicher Zahl: Hier lag der Abgangsbahnhof der ersten regelmäßig verkehrenden Personen-Eisenbahn der Welt, der namengebende Ursprung des entfesselten Kapitalismus, der Ort des Zusammentreffens von Karl Marx mit Friedrich Engels (dadurch wohl die Wiege des Marxismus), die Heimat des female suffrage in Person der Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst, die Wirkungsstätte des Computer-Pioniers Alan Turing (der im Zweiten Weltkrieg den deutschen Enigma-Code für den britischen Geheimdienst knackte), später eine Keimzelle für das in guter multiethnischer Nachbarschaft gelebte diversity-Konzept sowie ein erster Sonnenplatz der ihr Versteck verlassenden gay scene. Zu den Schattenseiten des Erbes rechneten die Autoren die miserablen Zustände in den Baumwollspinnereien (die Engels zu seiner „Lage der arbeitenden Klasse“ veranlassten), jene von der Kavallerie niedergemähte Protestkundgebung von 1819 („Peterloo-Massaker“, mit elf Todesopfern), die schweren Rassenunruhen der 1970er Jahre, das größte Bombenattentat in Friedenszeiten auf englischem Boden (mit welchem die IRA 1996 die halbe Innenstadt in Schutt und Asche legte). Die Konklusion der historischen Erzählung lautete demnach grob: In dieser ehrwürdigen Stadt wurde zwar der Manchester-Liberalismus erfunden und mit ihm die infame Idee des „serious wealth“, aber eben auch eine kritische Gegenerzählung durch die Arbeiter – und überhaupt alle möglichen Befreiungsbewegungen.

People love places with a scandalous past

Erleben lässt sich dieses Narrativ der Aussöhnung, wenn man auf einem Spaziergang entlang der schmalen Kanäle Manchesters sieht, wie sich in den zahllosen aufgelassenen Fabriken und Lagerhäusern – für deren Abriss nach dem Ende der industriellen Hochzeit schlicht das Geld fehlte – aktuell eine erstarkte Bürgerschaft zwischen gusseisernen Hallenkonstruktionen, Resten ausgedienter Maschinenparks, unverputzten Backsteinmauern behaglich einrichtet. Dieses Prinzip der Konservierung nach dem Typ „Vergangenheit schlägt Funktion“ begegnet uns genauso im Berliner Scheunenviertel, wo junge Menschen Cocktails unter der sehr alten Ankündigung einer Armenspeisung trinken, oder in Paris, wo im vormals jüdisch geprägten Marais das liebevoll gepflegte Ladenschild einer koscheren Bäckerei nunmehr die Eingangstür einer Designer-Boutique ziert. Die Entscheidung, in solch erinnerungssattem Bezirk zu wohnen, auszugehen, einzukaufen, heißt dann zwar immer, sich anhand des historischen Zitats, des spielerischen Symbols, des ironischen Simulacrums in die besondere Geschichte des Ortes einzuschreiben. Oder wie mir ein flinker Makler einmal frohgemut verkündete: People love places with a scandalous past. Aber derart postmodernes Geschichtsbewusstsein ruft auch aus: Die Gegenwart ist gerade keine bloße Weiterentwicklung des Gewesenen, sondern dessen souveräne Inspiration und zuweilen sein Gegenentwurf.

Der angebissene Apfel

Ja, wir lieben diese Sorte marktgängig konfektionierter Geschichte heute sehr und daher wird sie uns, gut kapitalistisch, käuflich. Das mag den behaupteten Zeitzeugenstatus sogar von etwas derart Seelenlosem und, nebenbei, rührend Altmodischem wie einer Armbanduhr begründen. Indessen weiß die Geschichtsdidaktik, dass die Zählung der Zeit so wenig als rational kalkulierendes Geschäft gelingt wie ihre erzählende Deutung und Interpretation. Die Wahrnehmung des Vergehens ist vielmehr selbst ein Zeitphänomen. Und deswegen kennt die Orientierung der Lebenswelt durch Geschichte – das heißt wörtlich: die Weisung des Weges nach Osten, Richtung Sonnenaufgang, nach Jerusalem, ins Paradies – nur Schlangenlinien. Alan Turing jedenfalls wählte 1954 noch den Freitod, nachdem ihn sein Staat durch ein medizinisches Programm zur Bekämpfung der Homosexualität psychisch zerstört hatte. Dazu verzehrte er einen vergifteten Apfel (die Umrisse der angebissenen Frucht dienten später womöglich als Vorbild des Apple-Logos). Im Jahr 2012 jedoch, zu seinem hundertsten Geburtstag, machte der olympische Fackellauf mit Zielort London Station an dem mittlerweile ihm zu Ehren in Manchester errichteten „Memorial“. Ob Turing jemals eine Rolex besaß, ist unwahrscheinlich; aber der von viel jubelndem Volk begleitete Stabtausch der Erinnerung ist auch so gut bezeugt. Public History eben.

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Literaturhinweise

  • Michele Barricelli: Gegenwart und Erinnerung in der großen Stadt. Ein Bericht über symbolisches Geschichtsbewusstsein in Prozessen des urbanen Wandels („Gentrification“). In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 1/2013.
  • Carla van Boxtel/Stephan Klein/Ellen Snoep (Hrsg.): Heritage Education. Challenges in Dealing With the Past. Amsterdam 2011.
  • Mike Seidensticker: Werbung mit Geschichte. Ästhetik und Rhetorik des Historischen. Köln u.a. 1995.

Webressourcen

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Abbildungsnachweis

(c) Michele Barricelli, Royal Mills in Manchester: Apartments for Sale.

Empfohlene Zitierweise

Barricelli, Michele: Zeitverkauf. In: Public History Weekly 1 (2013) 1, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-126.

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Categories: 1 (2013) 1
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-126

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2 replies »

  1. Nicht nur ‚die‘ Geschichte, wenn es sie denn überhaupt gibt, sondern auch die Geschichte der Geschichtsdeutungen verläuft in Schlangenlinien, wenn nicht gar als unsteter Prozess von Deutung und Gegendeutung. Das ist die eine Kernaussage in Michele Barricellis lesenswerten Beitrag „Zeitverkauf“. Die andere betrifft den gesellschaftlichen Kontext unserer gegenwärtigen Geschichtskultur: Konkurrenz, Kapitalismus, Manchester und die aktuellen Strategien – man könnte auch sagen Auswüchse – der Marketingabteilungen namhafter Unternehmen sind die Schlüsselwörter, mit denen Barricelli beschreibt, welche Kräfte im aktuellen Deutungsgeschäft mächtig wirken. Geschichtserzählungen werden zur Ware bzw. zum Verkaufsargument für Waren. Geschichte zählt heute zu den weichen Wirtschaftsfaktoren. Public History ist längst ein Ort, an dem auch kapitalistische Verwertungsinteressen verfolgt werden. Wer nun aber denkt, Barricelli übe wohlfeile Kritik an diesem Zweig der ‚Kulturindustrie‘, der irrt. Das Einziehen von Grenzen und Normen ist seine Sache nicht. Die Frage, wer Geschichte zu was gebrauchen bzw. missbrauchen darf und wer darüber bestimmen soll, wird nicht gestellt. Der Autor weiß selbst, die einstmals mächtigen Autoritäten, wie politische Herrschaften oder gelehrte Wissenschaftler, haben ihre Deutungshoheit längst eingebüßt. In so genannten offenen Gesellschaften stellt man keine Ansprüche mehr an die Umgangsformen mit Geschichte. Fast alles ist erlaubt, der Markt muss es nur wollen.

    Insofern ist der Beitrag angenehm moralinfrei. Weder wird nach dem richtigen Leben im Falschen gesucht, noch das große und ganze System pauschal verurteilt. Nicht einmal der leichtfertige Umgang mit zentralen Begriffen der Geschichtsdidaktik durch die Warenanbieter ficht den Autor wirklich an. Barricellis Analysen sind subtilerer Natur. Er argumentiert dialektisch, und zwar nicht nur auf der Ebene des vergangenen Geschehens als historische Prozesse von Bewegung und Gegenbewegung – diese Art des Denkens rechnet Barricelli vielmehr selbst der Abteilung ‚Meistererzählungen‘ zu, sondern auf der Ebene des historischen Erzählens, mit denen gegenwärtige Menschen vordergründig widersprüchliche Bedeutungen generieren und die mehr Auskunft über die Bedürfnisse oder Projektionen derjenigen geben, die Geschichte gebrauchen, als über das reale Erleben und Leiden vergangener Menschen. Dass solche Formen des marktgängigen Erzählens eine empirische Tatsache sind, lässt sich kaum bestreiten. Doch soll man es bei dieser Diagnose bewenden lassen, oder gelangt man am Ende nicht doch wieder zu der auch normativen Frage, ob und wie über vergangenes Erleben und Leiden von Menschen erzählt werden darf. Oder anders gefragt: Gehört zur unantastbaren Würde des Menschen nicht auch die Würde seiner eigenen Geschichte? Vermutlich lässt sich diese Frage nicht befriedigend beantworten. Was man aber zumindest tun kann, ist, der Behauptung der ‚Geschichtsverkäufer‘ entgegenzutreten, Waren seien Zeitzeugen oder würden gar Geschichte erzählen. Nicht die Dinge erzählen Geschichte, sondern Menschen, die dazu die Dinge als Zeichen, als Ikone oder Symbole verwenden. Widersprechen sollte man auch dem verkaufsfördernden Versprechen, man könne Geschichte erleben. Was die gegenwärtigen Menschen erleben oder erleiden, ist nicht ‚die‘ Geschichte, sondern sind die mal mehr und mal weniger gelungenen Narrative auch von Marketingstrategen.

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