Abstract:
This article contributes to the discussion of academic freedom, which has recently been initiated by the founding of the “Network for Academic Freedom” and has taken up a lot of space in the German press. The aim is to take a differentiated look at the questions raised in the context of this network and to discuss central theses.
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2021-17995.
Languages: English, German
Die Wissenschaftsfreiheit hat Konjunktur – jedoch nicht als ein bestimmendes Prinzip, das das akademische Berufsfeld bestimmt, sondern als Kampfbegriff, als Label für eine Diskussion um Identitätspolitik und Meinungsfreiheit. Ein neu gegründetes “Netzwerk Wissenschaftsfreiheit” nutzt diesen Begriff auf eine Weise, die noch nicht ausreichend diskutiert ist. Wofür steht der Begriff, und was wird da diskutiert? Welchen Bedrohungen ist die Wissenschaftsfreiheit tatsächlich ausgesetzt, und wo muss sie verteidigt werden?
Welche Wissenschaftsfreiheit?
Die Wissenschaftsfreiheit wird in Deutschland und Europa an vielen Stellen bedroht. Deutsche Wissenschaftler:innen erhalten Morddrohungen, weil sie ihre virologischen oder epidemologischen Erkenntnisse öffentlich kommunizieren; Historiker:innen werden mit Gerichtsverfahren überzogen, weil sie sich kritisch zur Rolle der Hohenzollern während der Weimarer Republik und dem NS äußern; das System lang andauernder Befristungen und der daraus folgenden existenziellen Abhängigkeit von Evaluationen ihrer Forschungen erzeugt für die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler:innen einen massiven Konformitätsdruck, weil sie von positiven Begutachtungen abhängig sind, wollen sie überhaupt eine Chance haben, ihren Beruf langfristig auszuüben. Die geschichtspolitische Gesetzgebung in Polen oder die Wissenschaftspolitik des Orbán-Regimes zeigen, wie aggressiv Drohung und Zensur die Wissenschaftsfreiheit in der EU fundamental gefährden.
Von diesen Angriffen auf die Arbeit und sogar auf die Existenz von Forscher:innen ist überraschenderweise nicht die Rede in dem Manifest, mit dem das ‘Netzwerk Wissenschaftsfreiheit’ im Februar 2021 an die Öffentlichkeit getreten ist. Auch die begleitenden Interviews, in denen das Netzwerk breit seine Positionen in überregionalen Tages- und Wochenzeitungen und im TV popularisieren konnte, lassen kaum Interesse an diesen Gefahren für wissenschaftliche Forschung und Lehre erkennen – man sieht sich vielmehr dezidiert als Vertretung derer, die sich, so wird behauptet, nicht beschweren können, und versucht, der eigenen Position damit mehr Gewicht zu verleihen.[1] Beklagt wird, die zentralen Angriffe resultierten aus
„ideologisch motivierte[n] Einschränkungen“, die „die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden soll. […] Wer nicht mitspielt, muss damit rechnen, diskreditiert zu werden. Auf diese Weise wird ein Konformitätsdruck erzeugt, der immer häufiger dazu führt, wissenschaftliche Debatten im Keim zu ersticken.“
Diese Diagnose bleibt so vage, dass erst die Interviews, die diese Kampagne tragen, erklären, worin die Gefahr bestehen soll: Beklagt wird eine Cancel-Culture, die aus identitätspolitischen Motiven abweichende Positionen zu unterdrücken versuche. Dadurch ergebe sich eine Verengung des Meinungskorridors, der auf einen politischen Mainstream festgelegt werden solle. Konkret werden ganz unterschiedliche Ereignisse genannt, die die Dominanz dieser Tendenz belegen sollen: von der Ablehnung negativ evaluierter Forschungsprojekte über studentischen Protest gegen Auftritte politisch umstrittener Redner:innen an der Uni, der Einführung gendersensibler Sprache im universitären Schriftverkehr ohne Rückfrage bei allen Professor:innen bis hin zu Strafanzeigen einzelner Student:innen.
Das Manifest und die flankierenden Interviews legen ihren Schwerpunkt nicht darauf, einzelne Vorkommnisse zu erläutern, um ihrer Vielschichtigkeit gerecht zu werden. Die ‚Fakten‘, die stichwortartig evoziert werden, dienen vielmehr der Konstruktion eines Narrativs. Der eigentliche Fokus der konzertierten Aktion liegt darauf, eine Geschichte zu etablieren, die die verschiedenen Einzelereignisse als Episoden in einem Gesamtgeschehen erscheinen lässt: evidenz- und rationalitätsbasierte Wissenschaft werde von linken Ideolog:innen gefährdet, indem sie außerwissenschaftliche politische oder moralische Argumente als Druckmittel einsetzten. Die ebenfalls vereinzelt erwähnten Beispiele von Übergriffen aus dem Spektrum der autoritären Rechten scheinen dem Zweck zu dienen, eine modifizierte ‘Hufeisentheorie’ zu etablieren, stehen aber nicht im Fokus der Polemik gegen moralisch-ideologische Übergriffigkeit.[2]
Nimmt man eine solche Rollenzuschreibung ernst, stünden sich an deutschen Universitäten zwei Lager gegenüber: auf der einen Seite diejenigen, die außerwissenschaftlichen moralischen oder politischen Ideologien anhängen und deswegen auch im Wissenschaftsbetrieb diese außerwissenschaftlichen Kriterien geltend machen, und auf der anderen Seite die ideologiefreien Kolleg:innen, die die Wissenschaftsfreiheit verteidigen. Diese Rollenverteilung implizierte zugleich ein erstaunliches Self-Fashioning der Netzwerker:innen. Sie geben zum einen vor, aus einer moralisch überlegenen Position zu agieren, insofern sie das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit verteidigten und zugleich den Rationalitätsstandards der Wissenschaftlichkeit verpflichtet seien. Das skizzierte Bedrohungsszenario lässt die Unterstützer:innen des Manifests zum anderen als potenzielle Opfer erscheinen. Von wem die Bedrohung ausgeht, bleibt ambigue. Dadurch werden ganz verschiedene Gruppen als Träger einer Gesamtbedrohung zusammengefasst: dissentierende Hochschulangehörige, die das Wissenschaftsmodell des Manifests oder die theoretischen Postulate einer unpolitischen, jenseits gesellschaftlicher Einflüsse agierenden Wissenschaft nicht teilen, politisch aktive Student:innen jedwelcher Couleur unabhängig davon, wie radikal oder gemäßigt sie agieren, daneben selbstverständlich auch ein bunter Strauß gesellschaftlicher Akteur:innen jenseits des Hochschulsystems, die sich in unterschiedlicher Form für eine stärkere Sensibilität gegenüber diskriminierenden Praktiken oder Diskursen engagieren, etwa gegenüber Frauen, nicht-binären Menschen oder auch gegenüber People of Colour.
Das Manifest erinnert an andere Initiativen konservativer Identitätspolitik: an Verteidiger:innen der Meinungsfreiheit aus rechtskonservativen Lagern oder an selbsternannte “Querdenker”, die lautstark fordern, dass auch ihre Äußerungen unter dem Mantel der Meinungsfreiheit gehört und als freiheitliche Äußerungen gewertet werden sollen. Aber was schützt das GG eigentlich, wenn es in Artikel 5 die freie Meinungsäußerung in Wort, Schrift und Bild, die Pressefreiheit sowie die Freiheit von Kunst und Wissenschaft sowie Forschung und Lehre schützt? Absatz 2 spezifiziert, dass diese Freiheit durch das allgemeine Gesetz, den Schutz der Jugend und das Recht der persönlichen Ehre eingeschränkt wird. Die Wissenschaftsfreiheit schützt also Forschung und Lehre, solange diese sich nicht im Widerspruch mit anderen freiheitlichen Grundrechten befindet. Lädt man Vertreter:innen rechtsextremer oder antidemokratischer Positionen zu Vorträgen ein, ist das nicht unbedingt Teil der eigenen Forschung und damit der freien Wahl dessen, womit man sich wissenschaftlich auseinandersetzen will. Auf diese Weise nutzt man die öffentliche Bühne einer Universität zur Verbreitung politischer Einstellungen. Mit Blick auf GG Art 5, 2 kann sich beispielsweise Rassismus kaum auf Meinungsfreiheit berufen. Aus Freiheitsrechten lässt sich kein Recht auf Diskriminierung ableiten.
Narrative der Wissenschaft
Das Narrativ, das das ‚Netzwerk Wissenschaftsfreiheit‘ zu etablieren versucht, greift unverkennbar verschiedene Vorbilder auf. In den USA dient der Pauschalvorwurf, man betreibe Cancel Culture oder wolle Political Correctness durchsetzen, seit einigen Jahren einer konservativen Identitätspolitik. Nicht erst seit der Präsidentschaft Trumps dient dieses Narrativ als Angebot, durch das sich ein breites Spektrum politischer Kräfte von Rechtsradikalen über Anhänger autoritärer Populisten bis zu gemäßigt konservativen Kreisen in einer gemeinsamen Bedrohung wiederfindet. Im bipolaren politischen System der USA liegt der unmittelbare politische Gewinn dieses Konstrukts auf der Hand. In Deutschland unterliegen Klagen über einen verengten Meinungskorridor, über die vermeintliche Einschränkung von Meinungsfreiheit und die öffentliche Unterdrückung missliebiger Stimmen einer ähnlichen Logik: Sie suggerieren eine geschlossene Front des linken Mainstreams, gegen die sich bedrohte Bürgerlichkeit zur Wehr zu setzen hätte. Die von der ‚neuen Rechten‘ explizit ausgegebene Strategie, durch Selbstverharmlosung und durch das Nutzen solcher Brückenthemen ins konservative Milieu die liberale, pluralistische Demokratie langfristig zu untergraben, scheint punktuell zu funktionieren, wie etwa die „Charta 2017“ zeigt,[3] zu deren Sprecher sich Uwe Tellkamp gemacht hat.
Den Initiator:innen des ‚Netzwerks Wissenschaftsfreiheit‘ soll explizit nicht unterstellt werden, einen ähnlichen Weg gehen zu wollen. Dennoch stellt sich die Frage, ob die binäre Strukturierung des Wissenschaftsfelds und die dominierende Verortung der Gefahren für Wissenschaftsfreiheit auf dem linken Spektrum, aber auch die Vereinnahmung verschiedenster Akteur:innen und politischen Strömungen zu Agenten einer gemeinsamen Bedrohung nicht genau solchen Narrativen Vorschub leisten. Der Wissenschaftsfreiheit ist nicht geholfen, wenn Kritik diskreditiert und das alte Zerrbild sozialistischer Bedrohungen bürgerlicher Rationalität aus der Mottenkiste des Kalten Kriegs hervorgeholt wird, während zugleich neurechte autoritäre Kräfte die Fundamente des demokratischen Systems und damit auch die Grundlagen der Wissenschaftsfreiheit in einer pluralistischen und liberalen Demokratie gefährden.
Das Manifest des Netzwerkes macht den Gegensatz zwischen Wissenschaft und Ideologie auf. Die eigene Arbeit der Mitglieder des Netzwerkes sei agenda-frei und ‘objektiv’, während andere Perspektiven als ideologisch und politisch diskreditiert werden. Diese Vorgehensweise scheint sich geradezu gegen die gender studies und postkoloniale Kritik zu richten. Sicherlich ist nicht jede Studie, die mit diesen Ansätzen arbeitet, exzellente Wissenschaft. Sie aber in Bausch und Bogen als Ideologie zu bezeichnen, verweigert sich gerade der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und beschränkt damit die Wissenschaftsfreiheit. Anderer, einem nicht passende, Forschung die Wissenschaftlichkeit abzusprechen gleicht einem Taschenspielertrick. Ähnlich unplausibel klingen Andeutungen in Interviews, als seien die einen Anträge abgelehnt worden, weil sie nicht gut waren, die anderen, weil sie nicht in den sogenannten linken Mainstream passten.[4]
Trotzdem beschwören manche Mitglieder des Netzwerks das Bild einer objektiven, von Interessen und gesellschaftspolitischen Agenden freien Wissenschaft. Auch dies müsste grundsätzlich diskutiert werden. Manches der entsprechenden Forderung lässt den Eindruck aufkommen, man wünsche sich den alten Elfenbeinturm zurück. Wissenschaft wird durch ihre Kategorien und Übereinkünfte der Verfahren wissenschaftlich, zum Beispiel das gerne zitierte Koselleck‘sche Vetorecht der Quellen. Wenn man sich an die Konventionen und Methoden der immer wieder beschworenen guten wissenschaftlichen Praxis hält, ist die Arbeit wissenschaftlich sauber. Aber hat sie damit ein Anrecht auf eine staatliche Förderung? Ist die Relevanzfrage an sich verwerflich? Keine Frage ist, dass politische Agenden nicht in die wissenschaftliche Analyse einfließen und erst recht nicht die Ergebnisse bestimmen dürfen. Das ist Kern der Methoden und Konventionen. Aber die Fragen, die wir stellen, die Themen, die wir untersuchen, kommen aus der Gegenwart. Die gesellschaftliche Legitimation von Wissenschaft kann nicht völlig losgelöst vom Gemeinwohl verstanden werden – jedenfalls nicht, wenn man sie vom/von der Steuerzahler:in bezahlt haben will.
Pluralisierung des Wissenschaftsdiskurses
Das Manifest des Netzwerks fordert mehr Pluralismus ein. Gegen ihr Narrativ der Verengung kann man das der Erweiterung in den letzten Jahren stellen: Das Spektrum an Themen, an möglichen Ansätzen und Untersuchungsobjekten hat sich seit den 1990ern und frühen 2000ern deutlich vergrößert und pluralisiert. Davor musste man das Interesse an Frauen- oder Geschlechtergeschichte fast verstecken, wollte man nicht Gefahr laufen, dass man bespöttelt oder die Arbeit als Betroffenheitsgeschichte deklassiert wurde.[5] Globalhistorische Bezüge und Verflechtungsgeschichte unterlagen einem extremen Druck, ihre Relevanz zu beweisen, während ‚klassische‘ deutsche Themen wie Reformation, Reichskammergerichtsprozesse und ähnliches sich vergleichbaren Fragen selten ausgesetzt sahen. Auch die Kulturgeschichte (des Politischen) kämpfte in dieser Zeit noch mit der Relevanzfrage, ihr wurde theoretisches Feuerwerk statt ernsthafter Quellenarbeit vorgeworfen.[6] Heute muss man sich weder für die Kategorie Gender noch für ein außereuropäisches Thema entschuldigen oder eines kulturgeschichtlichen Ansatzes wegen verstecken.
Für die ehemals hegemonialen Ansätze, sei es der Politik- oder der klassischen Sozialgeschichte, bedeutet eine Zunahme von Ansätzen und Themen eine reduzierte Hegemonialmacht über die Interpretationen; es mag sogar sein, dass die Relevanzfrage auch einmal umgedreht werden kann. Das ist aber eben keine Folge der Einengung, sondern der Erweiterung des wissenschaftlichen Spektrums und bedroht keineswegs die Wissenschaftsfreiheit. Diese Erweiterung hat auch Folgen auf dem Feld der Drittmitteleinwerbung: Durch die Zunahme und Vervielfältigung anerkannter Themen und Ansätze bei deutlich langsamer wachsender Finanzdecke haben sich die Bedingungen verändert. Ohne Zweifel haben sich die Erfolgschancen für die, die neu dazugekommen sind, deutlich erhöht und für die, die davor erfolgreich waren, reduziert. Es drängt sich bei manchen Interviews der Verdacht auf, dass dieser Verlust an Bedeutung und Deutungshoheit nun als Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit ‚verkauft‘ wird. Dabei besteht hier durchaus ein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit, wenn man bedenkt, dass staatliche und private Forschungsförderinstitutionen in Folge der steigenden Ökonomisierung des Wissenschaftssystems der Forschung Themen geradezu diktieren können. Diese Bedrohung scheint in den Texten des Netzwerks nicht auf.
Zur Diskussion gehört auch, ob die individuelle Person, Sozialisation und Identität der Forscher:innen eine Rolle spielt. Vermutlich würde diese Beobachtung weitestgehend geteilt werden. Eine dem entgegenstehende, aus dem 19. Jahrhundert stammende Forderung nach „Objektivität“ alleine ist nicht die Lösung, wie Anna-Lena Scholz gerade sehr deutlich in der Zeit erläuterte.[7] Andererseits haben wir uns von der Idee des empathischen hermeneutischen Einfühlens ebenso verabschiedet. Der Einfluss von Erfahrungen, von Sozialisierung und kulturellem Hintergrund muss immer neu hinterfragt werden. Das können wir als drei weiße, deutsche Vormoderne-Historiker:innen hier aber nicht. Dafür müsste ein wissenschaftlicher Diskurs mit den verschiedensten Wissenschaftler:innen geführt werden: the floor is open for discussion.
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Literaturhinweise
- Gess, Nicola. Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit, Berlin: Matthes & Seitz, 2021.
Webressourcen
- Netzwerk Wissenschaftsfreiheit: Manifest: https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ueber-uns/manifest/ (letzter Zugriff 22. März 2021).
- Jan Werner Müller: Identitätspolitik, Internationale Politik 2, März/April 2021, 104-109 (https://internationalepolitik.de/de/identitaetspolitik?s=04&fbclid=IwAR0Ue3FgXprUMmhUDnyjp0M-ogmk4bvSk2w321udAzvslMPIEvfKv0Exev0) (letzter Zugriff 22. März 2021).
- Martin Carrier, Maria Kronfeldner, Maria-Sibylla Lotter und Elif Özmen: Ausgrenzung oder Diskurs? Fragen des Umgangs mit extremen Positionen, Information Philosophie 4 (2019), 36-47 (https://www.information-philosophie.de/?a=1&t=8892&n=2&y=1&c=60) (letzter Zugriff 22. März 2021).
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[1] Das Manifest des Netzwerks findet sich an folgender Stelle: https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ueber-uns/manifest/ (letzter Zugriff 17. März 2021). Seine Publikation ist durch Interviews von zahlreichen Protagonist:innen des Netzwerks begleitet worden, zum Beispiel an folgender Stelle: Die Zeit (04.02.2021): Sandra Kostner/Andreas Rödder, Deutschlandfunk Kultur (04.02.2021): Maria-Sibylla Lotter, FAZ online (10.02.20221): Martin Nettesheim, Welt online (11.02.2021): Ulrike Ackermann; 3sat Kulturzeit (16.02.2021): Ulrike Ackermann, SZ online (16.02.2021): Michael Sommer. Flankierende, positive Berichterstattung zum Beispiel in: FAZ (03.02.2021), Tichys Einblick (04.02.2021).
[2] Hier sei verwiesen auf die Pressemitteilung des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit vom 19.02.2021, in der die Mitglieder sich entschieden gegen eine “Hetzkampagne” gegen Prof. Dr. Maisha-Maureen Auma verwehren. Auch das ist eine Episode, die die generelle Forderungen nach Ideologiefreiheit stützt.
[3] Die Charta 2017 wurde von Susanne Dagen als Online-Petition initiiert, um sich gegen den Ausschluss verschiedener Verlage von der Buchmesse zu positionieren. Gegenstand der Diskussion war deren rechtskonservative bis rechtsextreme Gesinnung. Vgl. zur Debatte luzide: Nicola Gess. Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit, Berlin 2021, 86-100.
[4] „Was nicht angenehm ist wird abgelehnt“. Interview mit der Migrationsforscherin Sandra Kostner und dem Historiker Andreas Rödder, in: Die Zeit No. 6, 04.02.2021, S. 26.
[5] Neben eigenen Erfahrungen sei hier auf die Rezeption wichtiger Historiker:innen der Frauen- und Geschlechterforschung/-geschichte verwiesen, beispielsweise Annette Kuhn oder Heide Wunder.
[6] Besonders eindrücklich hier: Thomas Nicklas: Macht – Politik – Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen einer Politischen Kulturgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 86 (2004), 1-25.
[7] Anna-Lena Scholz, Der Konflikt. Universitäten werben um Frauen, ermutigen Arbeiterkinder, hissen Regenbogenflaggen. Doch ist gute Wissenschaft tatsächlich abhängig von der Identität der Forschenden? in: Die Zeit No 10, 04.03.2021, S. 31-32.
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Abbildungsnachweis
Ilja Jefimowitsch Repin: What freedom! © Public Domain via Commons.
Empfohlene Zitierweise
Dartmann, Christoph, Antje Flüchter, and Silke Schwandt: “Wissenschaftsfreiheit” und Pluralisierung. In: Public History Weekly 9 (2021) 3, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2021-17995.
Redaktionelle Verantwortung
Academic freedom is booming — not, however, as a defining principle that determines the academic professional field, but as a fighting term, a label for a discussion about identity politics and freedom of expression. A newly founded “Network Academic Freedom” uses this term in a way that has not yet been sufficiently discussed. What does the term stand for and what is being discussed? What threats is academic freedom actually exposed to and where does it need to be defended?
Which Academic Freedom?
Academic freedom is under threat across Germany and Europe. German scientists receive death threats for publicly communicating their virological or epidemiological findings; historians are subjected to legal proceedings for speaking critically about the role of the Hohenzollerns during the Weimar Republic and the Nazi regime; the long-lasting system of fixed-term contracts and the resulting existential dependence on evaluations of their research creates massive pressure to conform for the vast majority of academics, because they are dependent on positive evaluations if they want to have any chance at all of practicing their profession in the long term. Poland’s history policy legislation or the Orbán regime’s science policy show how aggressively threats and censorship are endangering academic freedom in the EU.
Surprisingly, these attacks on the work and even the existence of researchers are not mentioned in the manifesto with which the “Network for Academic Freedom” went public in February 2021. The accompanying interviews, in which the network widely popularized its positions in national daily and weekly newspapers and on TV, also reveal hardly any interest in these dangers to scientific research and teaching. Instead, the network sees itself decidedly as a representative of those who, it is claimed, cannot complain, and thus tries to lend more weight to its own position.[1] It is complained that the central attacks result from “ideologically motivated restrictions,” which are intended to “increasingly place the constitutionally guaranteed freedom of research and teaching under moral and political reservation. […] Whoever does not play along must expect to be discredited. In this way, a pressure to conform is created that increasingly leads to nipping scientific debates in the bud.”
This diagnosis remains so vague that only the interviews carrying this campaign explain what the danger is supposed to be: They complain of a cancel culture that is trying to suppress dissenting positions for reasons of identity politics. This would result in narrowing the corridor of opinion, which would be fixed to a political mainstream. In concrete terms, a wide variety of events are cited as evidence of the dominance of this tendency: from the rejection of negatively evaluated research projects through student protests against politically controversial speakers appearing at universities to the introduction of gender-sensitive language in university communications without consulting faculty and to criminal charges filed by individual students.
The manifesto and the accompanying interviews do not cite individual incidents in order to do justice to their complexity. Rather, the “facts” (evoked by buzzwords) serve to construct a narrative. Such concerted actions focus on establishing a narrative that makes individual events appear as episodes of an overall event: evidence- and rationality-based science is being endangered by leftist ideologies leveraging non-scientific political or moral arguments. While the examples of right-wing assaults, also mentioned sporadically, seem to serve establishing a modified “horseshoe theory” (Hufeisentheorie),[2] they are not the focus of the polemic against moral-ideological assault.[3]
If such a role attribution were taken seriously, two camps would be facing each other at German universities: On the one side stand those who adhere to extra-scientific moral or political ideologies and therefore also assert these extra-scientific criteria in the scientific enterprise; on the other are the ideology-free colleagues who defend academic freedom. At the same time, this role distribution implies an astonishing self-fashioning of the networkers. On the one hand, they pretend to act from a morally superior position, insofar as they defend the fundamental right of academic freedom while being committed to the rationality standards of scientificity. On the other, the outlined threat scenario makes the manifesto’s supporters appear as potential victims. From whom exactly the threat emanates remains ambiguous. Thus, quite different groups are perceived as threatening: dissenting university members who do not share the scientific model of the manifesto or the theoretical postulates of a non-political science acting beyond social influences; politically active students of any stripe, regardless of their political affiliation. Then, of course, there is a colorful array of social actors beyond the university system who are committed in various forms to propagating greater sensitivity to discriminatory practices or discourses, such as those against women, non-binary people, or people of color.
The manifesto is reminiscent of other initiatives of conservative identity politics: Defenders of the freedom of speech — from right-wing conservative camps or self-proclaimed “lateral thinkers” — who loudly demand that their statements should also be heard and evaluated as free statements. Yet what exactly does the German Constitution protect in Article 5, when it protects the freedom of expression in speech, writing and image, the freedom of the press, the freedom of art and science, as well as the freedom of research and teaching? Paragraph 2 stipulates that this freedom is limited by general law, by the protection of young people, and the by right to personal dignity. Academic freedom thus protects research and teaching as long as it does not conflict with other fundamental rights of freedom. If one invites representatives of right-wing extremist or anti-democratic positions to lectures, this is not necessarily part of one’s own research and thus of the free choice of what one wants to deal with scientifically. In this way, one uses the public stage of a university to spread political attitudes. With regard to Article 5, 2 of the German Constitution, racism, for example, can hardly invoke the freedom of speech. No right to discrimination can be derived from civil rights and liberties.
Narratives of Science
The narrative that the “Network for Academic Freedom” is seeking to establish is unmistakably based on various models. In the U.S., the blanket accusation that one is practicing cancel culture or trying to enforce political correctness has served conservative identity politics for several years. Not only since Trump’s presidency has this narrative served as a proposition through which a broad spectrum of political forces, from right-wing radicals through supporters of authoritarian populists to moderate conservatives, find themselves under a common threat. In the bipolar political system of the United States, the immediate political gain of this construct is obvious. In Germany, complaints about a narrowed corridor of opinion, about the supposed restriction of freedom of expression and the public suppression of unpopular voices are subject to a similar logic: They suggest a closed front of the left mainstream, against which threatened civility would have to defend itself. The explicit strategy of the “new right” — to undermine liberal, pluralistic democracy in the long term through self-deprecation and deploying such bridging themes into the conservative milieu — seems to work in certain instances, as illustrated by the “Charter 2017,”[4] of which Uwe Tellkamp has made himself the spokesman.
We are not accusing the initiators of the “Network for Academic Freedom” of wanting to follow a similar path. Nevertheless, the question arises whether the binary structuring of the academic field and the dominant localization of the threats to academic freedom among the political left, but also the appropriation of the most diverse actors and political currents as agents of a common threat, do not encourage such narratives. Academic freedom is not helped if criticism is discredited and the old distorted image of socialist threats to bourgeois rationality is brought out of the mothballs of the Cold War, while new-right authoritarian forces endanger the foundations of the democratic system and thus also the foundations of academic freedom in a pluralistic and liberal democracy.
The network’s manifesto exposes the contrast between science and ideology. The work of the network’s members is agenda-free and “objective,” while other perspectives are discredited as ideological and political. This approach seems to be aimed squarely at gender studies and postcolonial critique. Certainly not every study using these approaches is excellent scholarship. However, branding them ideology means refusing to engage in scientific debate and thus restricting academic freedom. Denying the scientific nature of research that does not fit one’s own agenda is a sleight of hand. Similarly implausible are insinuations made in interviews, as if some funding applications are rejected for not being good, others for not fitting into the so-called left mainstream.[5]
Nevertheless, some members of the network conjure up the image of an objective science free of interests and socio-political agendas. This, too, would need to be discussed. Some of the corresponding demands create the impression of wishing back the old ivory tower. Science becomes scientific through its categories and procedures, for example, Koselleck’s often-cited right to veto sources. If one adheres to the conventions and methods of the ever-invoked good scientific practice, one’s work is scientifically clean. But does that entitle it to government funding? Is the question of relevance itself reprehensible? There is no question that political agendas should not enter into scientific analysis, much less determine the results. That is central to methods and conventions. But the questions we ask, and the issues we investigate, come from the present. The social legitimacy of science cannot be understood in complete isolation from the common good — at least not if you wants taxpayers to foot the bill.
Pluralization of Academic Discourse
The network’s manifesto calls for more pluralism. Its narrative of narrowing can be contrasted with that of broadening in recent years: The range of topics, of possible approaches and objects of inquiry, has expanded and pluralized significantly since the 1990s and early 2000s. Before that, one almost had to hide one’s interest in women’s or gender history if one did not want to run the risk of being ridiculed or having one’s work declassified as affected history.[6] Global historical references and interconnected history were subject to extreme pressure to prove their relevance, while “classical” German topics (e.g. the Reformation and Imperial Chamber Court trials) rarely faced such questions. At the time, the cultural history (of the political sphere) also still struggled with the question of relevance. It stood accused of setting off theoretical fireworks instead of doing serious source work.[7] Today, there is no need to apologize for the category of gender or for a non-European topic or to hide for the sake of a cultural history approach.
For the formerly hegemonic approaches, be it political or classical social history, the increasing number of approaches and topics means a reduced hegemonic power over interpretations; the question of relevance might even be reversed once in a while. However, this is not a consequence of a narrowing, but rather of a broadening of the scientific spectrum and in no way threatens academic freedom. This broadening also has consequences for third-party funding: The conditions have changed due to the increase and multiplication of recognized topics and approaches with a significantly slower growth in funding. The chances of success have doubtless increased significantly for newcomers and reduced for those who were successful before. In some interviews, the suspicion arises that this loss of importance and interpretative authority is now being “sold” as a threat to academic freedom. Academic freedom is being encroached upon given that state and private funding bodies can virtually dictate research topics due to the increasingly economized academic system. This threat remains unmentioned in the network’s texts.
The general discussion also needs to include whether the individual researcher’s socialization and identity play a role. Presumably, this observation would be widely shared. An opposing 19th-century demand for objectivity alone is not the solution, as Anna-Lena Scholz recently explained very clearly in Die Zeit.[8] On the other hand, we have also bid farewell to the idea of hermeneutic empathy. The influence of experiences, of socialization, and of cultural background must be questioned time and again. Which we — three white, German pre-modern historians — cannot do here. This requires a scholarly discourse with a wide variety of scholars: The floor is open for discussion.
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Further Reading
- Gess, Nicola. Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit, Berlin: Matthes & Seitz, 2021.
Web Resources
- Netzwerk Wissenschaftsfreiheit: Manifest: https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ueber-uns/manifest/ (last accessed 22 March 2021).
- Jan Werner Müller: Identitätspolitik, Internationale Politik 2, März/April 2021, 104-109 (https://internationalepolitik.de/de/identitaetspolitik?s=04&fbclid=IwAR0Ue3FgXprUMmhUDnyjp0M-ogmk4bvSk2w321udAzvslMPIEvfKv0Exev0) (last accessed 22 March 2021).
- Martin Carrier, Maria Kronfeldner, Maria-Sibylla Lotter und Elif Özmen: Ausgrenzung oder Diskurs? Fragen des Umgangs mit extremen Positionen, Information Philosophie 4 (2019), 36-47 (https://www.information-philosophie.de/?a=1&t=8892&n=2&y=1&c=60) (last accessed 22 March 2021).
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[1] See here for the network’s manifesto: https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ueber-uns/manifest/ (last accessed 17 March 2021). Its publication has been accompanied by interviews with several protagonists: Die Zeit (04.02.2021): Sandra Kostner/Andreas Rödder; Deutschlandfunk Kultur (04.02.2021): Maria-Sibylla Lotter; FAZ online (10.02.20221): Martin Nettesheim; Welt online (11.02.2021): Ulrike Ackermann; 3sat Kulturzeit (16.02.2021): Ulrike Ackermann; SZ online (16.02.2021): Michael Sommer. Examples of positive reporting include FAZ (03.02.2021), Tichys Einblick (04.02.2021).
[2] This is a very common term in contemporary political debate in German-speaking countries, for the sake of explanation an English-language adaptation: Simon Choat on Conversation May 12, 2017: ‘Horseshoe theory’ is nonsense – the far right and far left have little in common.
[3] We are referring to the press release of the Network for Academic Freedom of February 19, 2021, in which members strongly oppose a “smear campaign” against Prof. Dr. Maisha-Maureen Auma. This episode also supports the general demand for the freedom of ideology.
[3] The Charter 2017 was initiated by Susanne Dagen as an online petition to take a stand against the exclusion of various publishers from the book fair. Discussion turned around their right-wing conservative to right-wing extremist sentiments.For a lucid account, see Nicola Gess, Halbwahrheiten: Zur Manipulation von Wirklichkeit (Berlin: Matthes & Seitz, 2021), pp. 86–100.
[4] “Was nicht angenehm ist wird abgelehnt.” Interview mit der Migrationsforscherin Sandra Kostner und dem Historiker Andreas Rödder, in: Die Zeit No. 6, 04.02.2021, p. 26.
[5] Besides our own experiences, we refer to the reception of important historians within women’s and gender studies/history (e.g. Annette Kuhn and Heide Wunder).
[6] One highly impressive account is Thomas Nicklas, “Power – Politics – Discourse: Möglichkeiten und Grenzen einer Politischen Kulturgeschichte,” in: Archiv für Kulturgeschichte 86 (2004), pp. 1–25.
[7] Anna-Lena Scholz, “Der Konflikt: Universitäten werben um Frauen, ermutigen Arbeiterkinder, hissen Regenbogenflaggen. Doch ist gute Wissenschaft tatsächlich abhängig von der Identität der Forschenden?” in: Die Zeit No 10, 04.03.2021, pp. 31–32.
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Image Credits
Ilja Jefimowitsch Repin: What freedom! © Public Domain via Commons.
Recommended Citation
Dartmann, Christoph, Antje Flüchter, and Silke Schwandt: “Academic Freedom” and Pluralization. In: Public History Weekly 9 (2021) 3, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2021-17995.
Editorial Responsibility
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Categories: 9 (2021) 3
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2021-17995
Tags: Academia (Wissenschaftsbetrieb), Freedom (Freiheit), Humanities (Geisteswissenschaften), Speakerscorner
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OPEN PEER REVIEW
Ein Sturm im Wasserglas?
Dass die Wissenschaftsfreiheit explizit Verfassungsrang hat, ist ein deutsches und ein österreichisches Spezifikum. In Deutschland ist die Unabhängigkeit von Hochschullehrern obendrein durch ihren Beamtenstatus abgesichert. Weltweit haben Wissenschaftler kaum irgendwo einen Schutzstatus, der vergleichbar weit geht wie in der Bundesrepublik Deutschland – dann jedenfalls, wenn sie es geschafft haben, eine Universitätsprofessur und damit eine unbefristete Stelle zu ergattern.
Ist also die Klage von 70 Wissenschaftlern vorwiegend aus Deutschland, die im Februar 2021 das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ ins Leben gerufen haben, die Freiheit von Forschung und Lehre sei bedroht, ein Sturm im Wasserglas? Larmoyantes Gehabe von Leuten, die ihr Schäfchen längst im Trockenen haben und jetzt jammern, weil sie ihre Privilegien in Gefahr wähnen, weil ihre „ehemals hegemonialen Ansätze“ jetzt mit neuen Themen und Untersuchungsgegenständen konkurrieren müssen?
Das scheinen die Verfasser den Initiatoren vorwerfen zu wollen, wenn sie ihnen unterstellen, ein „Narrativ“ konstruieren zu wollen, das diverse Einzelfälle zu einer Geschichte mit der immanenten Logik verbindet, Artikel 5 stehe auf der Kippe. Sie wundern sich darüber, dass das Netzwerk zur Hohenzollerndebatte, zu den Vorgängen im östlichen Mitteleuropa und zur Problematik des durch die Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs erzeugten Konformitätsdrucks schweigt,[1] zugleich aber ein „Self-Fashioning“ als Hüter wissenschaftlicher Rationalitätsstandards und als potentielle Opfer eines diffusen Bedrohungsszenarios betreibt.
Dagegen ist erstens einzuwenden, dass die Bedrohung durchaus real ist. Wissenschaftsfreiheit ist wie jedes Grundrecht ein Recht, das Bürger gegenüber dem Staat ermächtigt. Der Staat und seine Organe, zu denen Ministerien und Hochschulleitungen zählen, hat, wenn sogenannte Aktivisten versuchen, Wissenschaftler daran zu hindern, Vorträge oder Lehrveranstaltungen zu halten, die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Veranstaltungen ungestört stattfinden können. Das hat verschiedentlich, wie der von Susanne Schröter organisierten Frankfurter Kopftuchtagung, gut funktioniert. Es gab und gibt aber immer auch Fälle, in denen staatliche Akteure nicht oder zu spät eingeschritten sind.
Es stimmt, dass die Zahl dieser Causae relativ klein ist. Das macht sie aber noch nicht zu Einzelfällen. Denn es ist evident, dass die schiere Möglichkeit, durch bestimmte Äußerungen oder Handlungen einen Shitstorm zu provozieren, der sich gewaschen hat, viele davon abschreckt, das zu sagen oder zu tun, wozu ihnen das Grundgesetz eigentlich jedes Recht gibt. Die „Schere im Kopf“ ist naturgemäß empirisch schwer zu belegen, doch ergab eine 2020 vom Deutschen Hochschulverband und der Konrad-Adenauer-Stiftung in Auftrag gegebene Umfrage immerhin, dass 30 bzw. 31% sich in Forschung bzw. Lehre durch „formelle oder informelle Vorgaben zur Political Correctness“ etwas oder sogar stark eingeschränkt fühlten. In den Geisteswissenschaften sind es sogar 33 bzw. 36%. Nur 18% gaben an, es solle verboten sein, einen Rechtspopulisten zu einer Podiumsdiskussion einzuladen, aber 74% glaubten, man würde damit auf Widerstand stoßen. Immerhin 40% waren sich sicher, Probleme könne auch bekommen, wer sich der gendergerechten Sprache verweigere.[2] Man wird kaum fehlgehen, wenn man vermutet, dass all die, die sich noch nicht in die auskömmliche Sicherheit eines Lehrstuhls gerettet haben, sich auf den Minenfeldern von Sprach- und Debattenregeln mit besonderer Vorsicht bewegen werden.
Zweitens sind es aber auch staatliche Akteure selbst, die Wissenschaftsfreiheit einschränken. Das politisch gewollte Anliegen der Gleichstellung kollidiert, anders als die grundgesetzlich garantierte Gleichberechtigung, mit der wissenschaftlich gebotenen Freiheit von Hochschullehrern, ihr Personal ausschließlich nach Eignung zu rekrutieren. Wenn jetzt bei der Ausschreibung von Drittmitteln der Gesslerhut der „Diversität“ gegrüßt werden muss, besteht die Gefahr, dass Forschungsprojekte allein auf Grund dessen aussortiert werden, dass sie Gutachtern in dieser Kategorie nichts zu bieten haben. Wer heute im Bereich der Gender Studies forscht, mag in Polen oder Ungarn Probleme bekommen, in Deutschland kann er sich angesichts des rapiden und ebenfalls politisch gewollten Wachstums des Faches auf rund 200 Professuren binnen kürzester Zeit schon lange nicht mehr aufs Marginalisiertwerden berufen.
Man kann solche Entwicklungen als „Pluralisierung des Wissenschaftsdiskurses“ bejubeln. Man mag, wenn man das Lobbyinteresse recht kleiner Gruppen als „Gemeinwohl“ versteht, auch argumentieren, die energisch in die Tat umgesetzte Neuausrichtung von Forschung und Lehre diene dem öffentlichen Nutzen. Man darf aber auch kritisieren, dass mit der Festlegung jeder Wissenschaft allein auf die Erkenntnis, mit dem faktisch natürlich nie einzulösenden, aber gerade deshalb so wichtigen Objektivitätsstreben und mit der Hermeneutik drei Elemente zur Disposition gestellt, die seit der Aufklärung den Markenkern wissenschaftlicher Forschung ausmachen.
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[1] Die beiden letztgenannten Kritikpunkte sind unzutreffend. Vgl. dazu „Freiheit der Wissenschaft. ‚Was nicht genehm ist, wird abgelehnt“, Interview mit Sandra Kostner und Andreas Rödder, in: ZEIT Campus, 5.02.2021. Kostner spricht darin explizit die Lage in Ostmitteleuropa an, Rödder beklagt die „Selbstkonformisierung“, die gerade durch die Abhängigkeit von Drittmitteln entstehe.
[2] Institut für Demoskopie Allensbach (Thomas Petersen), Forschungsfreiheit an deutschen Universitäten. Ergebnisse einer Umfrage unter Hochschullehrern: https://www.kas.de/documents/252038/7995358/Studie+des+Instituts+f%C3%BCr+Demoskopie+Allensbach+zur+Forschungsfreiheit+an+deutschen+Universit%C3%A4ten.pdf/01252a6a-38eb-a647-fb74-7d39b1890382?version=1.0&t=1581610619899, abgerufen am 27. März 2021.
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OPEN PEER REVIEW
Alarmzeichen Politisierung/Moralisierung
Es stimmt, Demokratien brauchen Geländer, aber sie brauchen auch eine feste Basis, auf der wir kontroverse Ansichten und strittige Themen gemeinsam verhandeln können. Die Rahmenbedingungen für das Austragen von Kontroversen müssen freilich immer wieder neu verhandelt werden, um die notwendige Akzeptanz der Aushandlungsprozesse zu sichern. Aus diesem Grund ist die Debatte, die das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ angestoßen hat, zu begrüßen. Wissenschaftliche Forschung und Verfahren sind für Demokratien ein maßgeblicher Teil dieser Rahmenbedingungen, nicht zuletzt weil sie uns eine Basis für eine interne Verständigung bieten und uns die Möglichkeit eröffnen, Argumente auszutauschen, mit der guten Chance sich von gegenteiligen Standpunkten überzeugen zu lassen. Diese Rahmenbedingungen, so die Gründungsdiagnose des Netzwerks, seien heute zunehmend „moralisch und politisch“ verformt, was einem potentiellen Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit gleichkomme. Damit wird ein zweiter wichtiger Aspekt aufgegriffen, nämlich eine angeblich beobachtbare Tendenz zur Politisierung und Moralisierung von wissenschaftlichen Standpunkten. Es erscheint dringend notwendig, diese Tendenz zur Ideologisierung zu reflektieren und zu diskutieren.
Das Netzwerk benennt als Grund des Zusammenschlusses, das Aufgreifen dieser Defizite, um wieder zu ‚objektiveren‘ Verhältnissen zu kommen – aber trifft das zu? Der Beitrag „Wissenschaftsfreiheit und Pluralisierung“[1] macht als Grund für den Vorstoß des Netzwerkes aus, dass die Deutungshoheit konservativer Ansätze aufgrund einer Pluralisierung wissenschaftlicher Themen, Akteure und Ansätze deutlich geschrumpft ist und traditionelle Themen Konkurrenz erhalten haben. Als Grund für die Initiative werden damit geminderte Erfolgschancen ausgemacht, die durch eine intendierte Korrektur der Rahmenbedingungen wieder verbessert werden sollen. Die zahlreichen Interviews, die Mitglieder des Netzwerks gegeben haben, können diese Lesart stützen, wenn beispielsweise die Historiker Peter Hoeres und Andreas Rödder abgelehnte Anträge als Grund ihres Protests anführen und dabei explizit wissenschaftliche Auswahlverfahren angreifen.[2] Michael Sommer geht – freilich ohne Angabe von Belegen – so weit, zu behaupten, das „sogenannte Peer-Reviewing, also die als Qualitätssicherungsmechanismus gedachte Begutachtung durch Fachkollegen, in Einzelfällen Zensurcharakter haben [kann].“[3]
Die Geschichtswissenschaft spielt für den oben skizzierten Prozess der gesellschaftlichen Verständigung über die Rahmenbedingungen von Aushandlungsprozessen in der Tat eine besondere Rolle, denn es ist unsere kollektive Erinnerung, die die Wertmaßstäbe und Urteile prägen, auf die wir uns als Gesellschaft einigen können. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass es ausgerechnet Historiker wie Ronald Asch, Frank-Lothar Kroll, Uwe Walter, Michael Sommer, Andreas Rödder oder Peter Hoeres waren, die den wesentlichen Anstoß zu dem „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ gegeben haben, obwohl – wie sie versichern – das Problem in anderen Disziplinen viel größer sei. Sie sind mit dem aktuellen Forschungsdiskurs im Fach und darüber hinaus nicht einverstanden und fühlen sich als Opfer eines Linken-Mainstream-Diskurses, der das eigene Geschichtsverständnis an den Rand drängt. Andreas Rödder ordnet diesen Mainstream-Diskurs als „eine identitätspolitische Ideologisierung“ ein: „– das, was ich als “Kultur des Regenbogens” bezeichne – und die Folgen der neoliberalen Umgestaltung der Universitäten“, die heute einen illiberalen, absoluten Geltungsanspruch vertreten würden.[4] Dieses traditionelle Geschichtsverständnis, eine „konservative Identitätspolitik“, wie es die Autor:innen des Beitrags „Wissenschaftsfreiheit und Pluralisierung“ nennen,[5] ist freilich nicht weniger das Ergebnis von gesellschaftlichen Diskursen und der einer identitätsstiftenden Formung, die ihrerseits mit dem Nationalstaatsgedanken im Wilhelminischen Zeitalter wurzeln. Die Autor:innen des Beitrags „Wissenschaftsfreiheit und Pluralisierung“ weisen vollkommen zurecht darauf hin, dass die Argumentationsrichtung des Netzwerks auf das ‚Opfernarrativ‘ rekurriert, das vor allem in den USA als Cancel Culture ein bekanntes Phänomen ist. Die damit verbundenen Klagen über verengte Meinungskorridore als Fundamentalkritik tragen maßgeblich dazu bei, dass wissenschaftliche Forschung und Verfahren, aber auch die Universitäten als Orte wissenschaftlicher Aushandlungsprozesse durch moralisierende Debatten erfolgreich politisiert werden.
Die Politisierung bzw. Moralisierung von Forschung und wissenschaftlicher Verfahren ist aber in der Tat ein Alarmzeichen. Sie stellen eine veritable Gefahr für Demokratien dar, denn sie tragen zur Erosion der Akzeptanz von Forschung und wissenschaftlichen Verfahren und damit zur Erosion von dem Boden bei, auf dem wir als Gesellschaft Konflikte aushandeln können. Kann es sein, dass das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ – womöglich unwillentlich – gerade zu diesem Phänomen der Politisierung von Wissenschaft, das zu bekämpfen es als Gründungsmovens angibt, selbst maßgeblich beiträgt?
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[1] Wissenschaftsfreiheit und Pluralisierung OPR
[2] “Was nicht genehm ist, wird abgelehnt“ Interview: Manuel J. Hartung und Anna-Lena Scholz. Die Migrationsforscherin Sandra Kostner und der Historiker Andreas Rödder sorgen sich um den öffentlichen Diskurs an deutschen Hochschulen. Jetzt wollen sie die Freiheit der Wissenschaft mit einem neuen Netzwerk verteidigen. 3. Februar 2021, 16:55 Uhr Editiert am 10. Februar 2021, 16:04 Uhr DIE ZEIT Nr. 6/2021, 4. Februar 2021. Peter Hoeres, „Wehret den Anfängen“, Die Tagespost, 14. Februar 2021.
[3] Interview von Johan Schloemann mit Michael Sommer, “Die Empfindlichkeit kann auch zu weit gehen”. Süddeutsche Zeitung, 16.02.2021. https://www.sueddeutsche.de/kultur/cancel-culture-universitaet-wissenschaft-hochschule-1.5206719.
[4] Wie Anm. 2.
[5] Siehe den Beitrag „Wissenschaftsfreitheit und Pluralismus.
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Pluralismus in der Geschichtswissenschaft
Die Autor:innen machen in ihrem Beitrag Perspektiven aus der internationalen Vormoderne-Forschung spürbar, die kongruent sind zu Sichtweisen neuerer zeithistorischer Wissenschaftsforschung,[1] die die These stützen, dass Pluralismus den eigentlichen Kern des Westernisierungskonzeptes ausmachen könnte. In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, die ich wie Eva Schlotheuber im Zentrum politisch-moralischer Aushandlungsprozesse über gesellschaftliche Selbstverständnisse sehe, hat in den 1960er Jahren eine Pluralisierung begonnen, die sich an der Fischer-Kontroverse festmachen lässt. Die bis dahin orthodoxe deutschnationale Position mit der Symbolfigur Gerhard Ritter konnte dabei heterodoxe Positionen nicht mehr wirksam ausgrenzen. Zusammen mit Bildungsexpansion und gesellschaftlichem Wandel führte dies zur Etablierung der Sozialgeschichte und von da an weiter zur Ausdifferenzierung von Strömungen und Ansätzen, von Themen und Fragestellungen.
Die ehemalige Orthodoxie nutzte damals gern das vom “Netzwerk Wissenschaftsfreiheit” aufgegriffene Bild einer objektiven, von Interessen und gesellschaftspolitischen Agenden freien Wissenschaft und versuchte, ihre Kontrahenten (nur in Ausnahmefällen Kontrahentinnen) als ideologisierte Propagandisten darzustellen. In den 1950er Jahren war es noch üblich, Forschungen von “Juden” und “Amerikanern” als Propaganda angeblicher “Feinde Deutschlands” zu schmähen, konnte ich anhand von HZ-Rezensionen zeigen. Das nahm in den 1960ern ab, aber der Kalte Krieg garantierte die Kontinuität eines anderen Feindbildes: Die Bielefelder Schule, und nicht nur sie, wurde oft und gern kommunistischer Umtriebe verdächtigt.
Die Vorstellung solch übermächtiger Feinde, derer sich die Wissenschaft im Dienste der Nation erwehren müsse, wurde allerdings auch nach Ende des Kalten Krieges nicht aufgegeben. Aus der Bedrohung von außen wurde – Motive der Red-Scare-Idee kommunistischer Agenten und Schläfer aufgreifend – eine Bedrohung gemacht, die angeblich mitten unter uns lauert. Das Bedrohungsszenario ist diffus. Das ist von Vorteil, weil sich so alle angesprochen fühlen dürfen, die irgendetwas fürchten, und sei es nur ein “Shitstorm”. Doch was ist der Effekt einer bedrohlichen Atmosphäre? Üblicherweise gilt als angemessene Reaktion auf eine Bedrohung das Zusammenrücken, die Schließung der Reihen, Burgfrieden und Fokussierung auf den Feind. So funktioniert auch dieses Thema der Neuen Rechten als Brücke des Rechtsextremismus in die gesellschaftliche Mitte.
Dabei fördern Aufrufe zu Einigkeit gegen ein Feindbild geradezu das Gegenteil von Pluralismus, nämlich Uniformierung. Der Anspruch auf eine “Freiheit von Hochschullehrern, ihr Personal ausschließlich nach Eignung zu rekrutieren”, zeugt von Michael Sommers unkritischem Glauben, selbst die Objektivität zu repräsentieren, die allein über eine Eignung zur Wissenschaft zu entscheiden hätte. Wenn dabei Forderungen nach Diversität perhorresziert werden, stärkt das um so mehr antiwissenschaftliche Tendenzen, die ohnehin schon wirksam sind, nämlich soziale und ideologische Homophilie. Die permanente kritische Prüfung von Geltungsansprüchen der Forschung, und das ist die Grundlage von Wissenschaft, verlangt dagegen größtmögliche Diversität. Der “Markenkern” eines Objektivitätsanspruchs verkauft sich lediglich gut. Abwehrreaktionen gegen demokratietheoretisch und epistemologisch gebotenen Pluralismus sind daher die eigentliche Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit.
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[1] Matthias Krämer: Westernisierung der Geschichtswissenschaft. Transatlantische Gastprofessoren im Umfeld der Historischen Zeitschrift, Berlin/Boston 2021 (in Vorbereitung).
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Diskussionswürdige Kritik
Der cultural turn der Geschichtswissenschaft und die Kulturgeschichte des Politischen und des Sozialen haben der Geschichtswissenschaft interessante und produktive Impulse vermittelt. Angesichts der schrumpfenden Zahl an Dauerstellen und an etatisierten befristeten Stellen entwickeln sich der produktive wissenschaftliche Streit um den heuristischen Wert neuer und (vermeintlich) traditioneller Ansätze leider zu einem Kampf um die materielle Selbstbehauptung des eigenen Fachgebiets.
Vorwürfe des methodischen Traditionalismus, des Positivismus und des Essentialismus, ob berechtigt oder nicht, werden auch als Waffen im Kampf um knappe Stellen eingesetzt. In diesem Kampf um knappe Ressourcen wird die perspektivische Erweiterung und der wachsende Methodenpluralismus in den älteren, aber nicht automatisch traditionsverhafteten Feldern der Geschichtswissenschaft aus taktischen Gründen übersehen. Die klassische Politikgeschichte und die empirisch arbeitende Sozialgeschichte auf dem Fundament der Klassen- und Schichtensoziologie haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten erheblich weiterentwickelt.
Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit deutet diesen Kampf um Deutungshoheit und Ressourcen als einen Kampf zwischen linken und konservativen Kolleginnen und Kollegen. Die politischen und die epistemologischen Konfliktlinien liegen jedoch nicht primär aufeinander oder parallel, sondern häufig auch quer. Dem Verdrängungsprozess in der Sozialgeschichte fielen zahlreiche Stellen der Arbeiterbewegungsgeschichte zum Opfer, deren Vertreter/innen fast immer der politschen Linken zugeordnet wurden und werden. Der cultural turn forderte auch im vermeintlichen “linken Mainstream” seine Opfer. Obwohl sich die Geschichtswissenschaft unter dem Eindruck der Finanzkrise von 2008 und der wachsenden sozialen Ungleichheit wieder stärker mit der ökonomischen Basis vergangener Gesellschaftsordnungen und der Geschichte der sozialen Ungleichheiten beschäftigt, spiegelt sich die Wiederentdeckung sozioökonomischer Fragestellungen in der Ressourcenverteilung nicht wider.
Kernfelder der sozioökonomischen historischen Forschung sind durch diesen innerwissenschaftlichen Konkurrenzkampf in ihrer Existenz bedroht. Ein Blick auf die universitären Ressourcen der Wirtschaftsgeschichte im größten Bundesland Nordrhein-Westfalen kann diese Hypothese empirisch untermauern. An den Universitäten Aachen, Düsseldorf und Siegen wurden Professuren für Wirtschaftsgeschichte einschließlich der damit verbundenen Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter/innen umgewandelt. An der Universität Köln gab die Geschichtswissenschaft die Professur für Wirtschaftsgeschichte an die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften ab. Nur der laute Protest der gesamten bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte hinderte die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät daran, sie in eine Professur für ein stärker berufsorientiertes Fach zu verwandeln. An der Ruhr-Universität Bochum droht der Professur für Wirtschaftsgeschichte die Umnominerung in eine Professur für “materielle Kultur”.
Dieses Fallbeispiel zeigt, dass die Kritik des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit an einer drohenden disziplinären Verengung der universitären Geschichtswissenschaft diskussionswürdig ist. Teilfächern wie der Wirtschaftsgeschichte drohen die völlige Marginalisierung, obwohl sie längst ihre Anschlussfähigkeit an neue Felder wie die Geschichte der Globalisierung bewiesen hat.
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Zur Moralisierung der Universität
Hat es überhaupt Sinn, lagerübergreifend über Cancel Culture zu diskutieren? Man kann daran zweifeln. – Die Wahrnehmung der Wirklichkeit auf den unterschiedlichen Seiten der Front unterscheidet sich zu stark. Das Problem ist, dass diejenigen, die durch Ausgrenzung ihrer politischen Gegner hoffen, ihre eigene Machtposition weiter auszubauen, natürlich dazu neigen, zu leugnen, dass es so etwas wie eine Einschränkung des Sagbaren überhaupt gebe. Allerdings ist diese Haltung, zumindest was die USA betrifft, wenig glaubhaft.[1] Und jede Diskussion über Cancel Culture muss in den USA einsetzen. Was heute in den USA Alltag ist, wird in 10-12 Jahren auch hier die Norm sein, das ist zu befürchten.
In den USA freilich ist die Beweislage erdrückend. Ein einziges falsches Wort kann reichen, um eine Karriere zu gefährden, wenn etwa ein Sinologe in einer Vorlesung ein chinesisches Wort ausspricht, das so klingt wie das verfemte N-Wort[2], oder wenn ein Dekan und seine Frau Studierenden raten, sich an Halloween so zu verkleiden, wie es ihnen gefällt, auch wenn manche das dann vielleicht für „cultural appropriation“ halten.[3] Auch Kritik an gewissen Exzessen[4] der Black Lives Matter-Bewegung ist sicher nicht ratsam, und kann dazu führen, dass man z. B. seine Position als Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften riskiert.[5] Faktisch ist es in den USA und im UK zu einer Entwicklung gekommen, die es für Wissenschaftler, die eher konservative oder traditionell liberale Positionen vertreten, ratsam erscheinen lässt, die eigenen Äußerungen einer Vorzensur zu unterwerfen, was viele auch tun. Das hat u. a. der Politikwissenschaftler Eric Kaufmann mit seinem Team für Großbritannien empirisch belegen können.[6]
Die Ursache für diese Entwicklung ist eine Folge der durchgehenden Moralisierung des akademischen Diskurses. Die Motive dafür sind in den USA sogar durchaus bis zu einem gewissen Grade nachvollziehbar. Die Geschichte von Sklaverei und Rassismus in Nordamerika ist eine sehr düstere, das Schlimmste daran ist die Heuchelei, mit der eine Nation, die sich von Anfang an die Menschenrechte aufs Banner geschrieben hatte und damit später, besonders im 20. Jahrhundert, ihre missionarische Machtpolitik in der ganzen Welt legitimierte, einem erheblichen Teil ihrer Bürger diese Menschenrechte vorenthielt, sie demütigte und erniedrigte, auch noch nach der sogenannten Sklavenbefreiung. Kann man sich darüber entrüsten? Ja ganz sicher, zumal das alles ja nicht einfach nur Geschichte ist, sondern in der Gegenwart in seinen Folgen immer noch sehr präsent ist.
Wissenschaftler sollten allerdings dennoch vorsichtig sein, ihre eigene Rolle vorwiegend als eine moralische zu definieren. Empörung kann ein legitimer Anstoß für historische Forschung sein, aber gute historische Werke werden am ehesten von jenen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen geschrieben, die ihren Zorn und ihre Leidenschaft vielleicht nicht vergessen, aber bereit sind zu zügeln und zu sublimieren. Vor allem sollten wir uns bewusst bleiben, dass die Geschichte selten ein Kampf zwischen dem reinen Guten und dem absolut Bösen, zwischen Licht und Finsternis ist, sondern dass meist unterschiedliche Grautöne vorherrschten. Das gilt übrigens auch für die Geschichte des europäischen Kolonialismus, auch wenn es ketzerisch sein mag, das festzustellen.
Wer Empörung und den Kampf für das scheinbar oder wirklich Gute als Wissenschaftler zu seinem Lebenselixier macht, vielleicht auch um persönliche Erlösung von vermeintlich ererbter Schuld zu erlangen, oder seinen eigenen Opferstatus hervorzukehren, folgt einem Lebensentwurf, der als solcher noch akzeptabel sein mag. Das Problem ist, dass Moralisten dieser Art meist keine Neutralität zulassen wollen. Wer zu kühler Sachlichkeit, zu Distanziertheit mahnt, der steht schon auf der falschen Seite, ist selbst schon Häretiker und muss deshalb zum Schweigen gebracht werden. Das illustriert ja u. a. der Fall von Bret Weinstein am Evergreen State College.[7]
Und machen wir uns nichts vor, wer heute behauptet, die zentrale Gefahr für die akademische Freiheit gehe in der westlichen liberalen Welt (Ungarn und Polen stellen sicher einen Sonderfall dar) von rechts aus, der will einfach die Realität nicht sehen, denn die eigentliche Bedrohung stellt heute der Siegeszug der „regressiven Linken“ dar, um einen Ausdruck von Maajid Nawaz zu verwenden.[8]
Nun kann man natürlich argumentieren, dass dieses Bild nur auf die USA und in Ansätzen noch auf Großbritannien zutreffe, ganz sicher nicht auf Deutschland. Sicher, noch mögen die Zustände hier durchaus passabel sein. Aber Alarmzeichen gibt es auch hier. So sollen plötzlich anerkannte Fachleute für afrikanische Geschichte nicht mehr öffentlich über ihre Themen sprechen, weil sie weiß sind und daher ihre Darstellung nicht authentisch sein könne wie jüngst in Hannover.[9] An anderer Stelle reicht ein einziges kritisches Wort über antiwestliche Strömungen im Islam oder über die Probleme, die aus ungebremster Immigration sich ergeben können, und man wird sofort öffentlich unter dem Beifall missgünstiger Kollegen und Kolleginnen als Rassist gebrandmarkt. [10]
Es mag sein, dass die strukturellen Widerstände gegen eine Übertragung der Normenwelt der „Wokerati“[11], die der Komiker Andrew Doyle in der Figur der Titania McGrath ein wenig bösartig aber treffend karikiert hat,[12] auf Deutschland doch stark genug sind, und dass es dazu keiner organisierten Abwehr bedarf. Das freilich denken die Mitglieder des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit nicht. Schlimmstenfalls wehren sie eine Gefahr ab, die sie überschätzt haben, oder aber sie erleiden eine Niederlage in einer Schlacht, die ohnehin nie gewonnen werden konnte. Dann sei es so; aber wenn alles gut geht, können sie vielleicht doch in einer breiteren außeruniversitären Öffentlichkeit eine wirkliche Diskussion anstoßen, die dafür sorgt, dass wir vor dem Schlimmsten bewahrt bleiben. Darum geht es und dafür sollten selbst diejenigen dankbar sein, die heute den Vormarsch der Kultur der Politischen Korrektheit noch verteidigen oder verharmlosen, denn auch hier gilt, die Revolution frisst ihre Kinder, das haben Kulturrevolutionen so an sich.
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[1] David Acevedo 2021. ‚Tracking Cancel Culture in Higher Education‘. NAS, 1. 4. 2021, https://www.nas.org/blogs/article/tracking-cancel-culture-in-higher-education (last accessed 10 April 2021).
[2] C. Flaherty 2020. ‚Professor suspended for saying a Chinese word that sounds like a racial slur in English‘. Inside Higher Ed https://www.insidehighered.com/news/2020/09/08/professor-suspended-saying-chinese-word-sounds-english-slur (last accessed 10 April 2021)
[3] Conor Friedersdorf 2015. ‚The New Intolerance of Student Activism‘. The Atlantic 9.11.2015, https://www.theatlantic.com/politics/archive/2015/11/the-new-intolerance-of-student-activism-at-yale/414810/ (last accessed 10 April 2021).
[4] Z. B. G. Flaccus 2020. ‚Portland’s grim reality: 100 days of protests, many violent‘. APNews, 4. 9. 2020, https://apnews.com/article/b57315d97dd2146c4a89b4636faa7b70 (last accessed 10 April 2021).
[5] W. v. Petersdorff 2020. ‚Der Fall des Professor Uhlig‘. FAZ, 15.6.2020, https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/wie-sich-die-rassismus-debatte-um-den-oekonomen-harald-uhlig-zuspitzt-16814652.html (last accessed 10 April 2021).
[6] Remi Adekoya, Eric Kaufmann, und Thomas Simpson 2020. ‚Academic Freedom in the UK‘. Policy Exchange, https://policyexchange.org.uk/wp-content/uploads/Academic-freedom-in-the-UK.pdf (last accessed 10 April 2021).
[7] Bari Weiss 2017. ‚When the Left turns on its own‘. New York Times, 1.6.2017, https://www.nytimes.com/2017/06/01/opinion/when-the-left-turns-on-its-own.html (last accessed 10 April 2021).
[8] Maajid Nawaz 2016. ‚I’m a Muslim reformer who is being smeared as an ‘anti-Muslim extremist’ by angry white liberals‘. The Independent, 31.10.2016, https://www.independent.co.uk/voices/anti-extremism-muslim-far-left-politics-quilliam-social-reform-a7388931.html (last accessed 10 April 2021); vergl. Arshia Malik 2016. ‚The battle with regressives‘. The Times of India, 6. 4. 2016, https://timesofindia.indiatimes.com/blogs/stepping-out/the-battle-with-regressives/ (last accessed 10 April 2021).
[9] Katharina Schipkowski 2021. ‚Nur ein bisschen gecancelt‘. TAZ, 29. 3. 2021, https://taz.de/Streit-um-Rassismus-Vortrag/!5758214/ (last accessed 10 April 2021)
[10] Ein Berliner Beispiel dafür wäre Ruud Koopmans 2016: ‚Daniel Bax, Der Parallelforscher‘. TAZ, 4.10.2016, https://taz.de/Streit-an-der-Humboldt-Universitaet/!5340970/ (last accessed 10 April 2021).
[11] Zur Welt der „Wokerati“ oder „Woksters“ siehe etwa James Lindsay 2020. ‚The Woke Breaking Point‘. New Discourses, 24.6.2020 https://newdiscourses.com/2020/06/woke-breaking-point/comment-page-2/ (last accessed 10 April 2021), vergl. Tom Slater 2021. ‚We didn’t start this culture war‘. Spiked 5.3.2021, https://www.spiked-online.com/2021/03/05/we-didnt-start-this-culture-war/ (last accessed 10 April 2021).
[12] Titania McGrath [Andrew Doyle] 2019. Woke: A Guide to Social Justice, London und – ernsthafter – Andrew Doyle 2021. Free Speech and Why it Matters. London 2021.
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Schon viel früher
Beide kontrahente Seiten scheinen vor allem emotional zu reagieren auf Tendenzen, die ihnen nun einmal grundsätzlich nicht passen, und sie ordnen die Kontroverse ganz offenkundig in ein Rechts-Links-Schema ein. Außerdem wird auf beiden Seiten munter interpretiert, fantasiert und unterstellt, wie die Gegenseite wirklich ticke und was deren wahre Motive seien. Man sollte sich doch lieber an die Fakten, an die realen Vorfälle halten, diese analysieren und dabei auch die dort vorgebrachten Argumente auf ihre wissenschaftliche Validität abklopfen.
Nur ein Beispiel: Nachdem Bernd Luckes Vorlesungen nach seiner Rückkehr an die Hamburger Universität gestört worden waren, veranstaltete die ZEIT (wenn ich mich nicht irre) eine Diskussion zwischen ihm und der damaligen Wissenschaftssenatorin von den Grünen. Letztere konnte sich nicht zu einer klaren Verurteilung der Krawalle durchringen, sondern hielt Lucke vor, er sei ja selbst schuld an den Störungen, weil seine politische Tätigkeit dazu beigetragen habe, den politischen Diskurs in der Bundesrepublik nach rechts zu verschieben.[1]
Dem Autor und den beiden Autorinnen dieses Beitrags möchte man außerdem noch ins Stammbuch schreiben, dass ihre einleitenden Hinweise auf Angriffe gegen die Wissenschaft und deren Vertreterinnen und Vertreter von rechter politischer Seite in Polen und Ungarn sowie von ebenfalls rechts zu verortenden Corona-Leugnern in Deutschland ein bisschen nach Whataboutism klingen, denn bei vielen hierzulande hat das Erschrecken über die illiberalen Tendenzen in der Wissenschaft ja schon viel früher bei den Ereignissen in der angelsächsischen Welt angefangen, über welche die drei leider kein Wort verlieren.
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[1] ‘Gleiches Rederecht für alle?’. Die ZEIT 29 Oct 2019, https://www.zeit.de/2019/45/bernd-lucke-afd-gruender-universitaet-hamburg (last accessed 14 April 2021).
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Orthodoxy in past, present, and future
In all contributions it shimmers through that it is by no means only about knowledge and science, but also and essentially about social interests, i.e. high positions, reputation, establishment and as permanent as possible reproduction of one’s own name and one’s own paradigm.
Why not put this perspective first? Then the techniques of social and discursive marginalization, of denial of perception and discourse, of publication control, of hegemonic interpretive attributions, of the preservation of old-fashioned club character in the committees, of the use of appropriately defined standards of decency and politeness, and not least of all the apparently ineradicable culture of hero worship become much more apparent.
In 1968ff. the orthodoxy of the time was able to make fairly, if not consistently successful, use of these means. Today the present orthodoxy uses them. The future orthodoxy will use them much more sharply, e.g. by means of cancel culture.
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Authors’ Reply
Die Kommentare, aber auch viele Reaktionen auf Twitter, in Mails oder persönlichen Gesprächen haben eins gezeigt: Wir müssen reden. Deswegen sind wir froh, dass wir mit Public History Weekly ein Forum gefunden haben, das zur Debatte ermutigt und konträre Positionen publiziert. Der Austausch von Argumenten dient der Wissenschaftsfreiheit gewiss besser als die Veröffentlichung von Statements in Publikationsorganen, die sich nur einer Seite verschrieben haben. Der folgende Kommentar fasst nur einige Beobachtungen zusammen, wird die Debatte aber gewiss nicht beenden.
1)
Wissenschaftler:innen können nur dann sinnvoll arbeiten, wenn sie miteinander um das bessere Argument ringen. Basis muss die Unterstellung sein, es ginge allen Beteiligten wesentlich um die Sache. Jede Immunisierung durch politische Verteufelung von Gegenpositionen gefährdet den wissenschaftlichen Diskurs – sofern nicht menschenverachtende oder andere strafrechtlich relevante Aussagen gemacht werden. Das schließt auch ein, methodisch solide Forschungen zu Geschlechter- und Kolonialgeschichte zu respektieren und nicht damit zu diskreditieren, sie auf wenige radikale Stimmen zu reduzieren.
Zugleich sollte es eine Pflicht zur guten Informiertheit geben, die sich zum Beispiel mit dem aktuellen Diskussionsstand über Rassismus und Ethnizität auseinandersetzt. Auf die fehlende Informiertheit hinzuweisen, wenn dies nicht zur Kenntnis genommen wird, ist keine Cancel Culture, kein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit, sondern genuin wissenschaftliche Kritik an falschen Annahmen. Die Anforderung, dass es um die Sache geht, muss auch an diejenigen gestellt werden, denen im wissenschaftlichen Feld ein Podium geboten wird. Leitende Perspektive für wissenschaftliche Debatten kann kein Anspruch auf objektive Rationalität sein, die unerreichbar ist.
Doch auch wenn die Position der Sprecher:innen immer mit zu reflektieren ist, müssen Argumente ad rem, nicht ad personam entscheidend bleiben. Zugleich müssen alle Beteiligten anerkennen, wenn ihre eigenen Initiativen in wissenschaftlichen Evaluationsverfahren nicht bestehen – so schmerzlich das ist. Jedenfalls zeichnen sich derzeit keine besseren Verfahren zur Entscheidung über finanzielle Ressourcen ab. Sie grundlegend in Frage zu stellen, weil einzelne Entscheidungen ungünstig ausgefallen sind, erscheint zumindest fragwürdig.
2)
Die Ziele derjenigen, die das Netzwerk unterstützen, sind diffus. „Wissenschaftsfreiheit“ eignet sich offensichtlich als assoziationsreicher Begriff, um ganz unterschiedliche Erfahrungen aufzufangen:
– eine fundamentale Ablehnung von Gleichstellungspolitik und von Maßnahmen, um die Diversität in der Universitätslandschaft zu fördern;
– die Sorge, der Gebrauch politisch aufgeladener Begriffe und Konzepte im Kontext der Wissenschaft könne politische und nicht nur wissenschaftliche Reaktionen hervorrufen;
– konkrete Auseinandersetzungen um die Geltung von politischen und wissenschaftlichen Kategorien im Grenzbereich zwischen beiden Diskursen;
– die Ablehnung von Forschungsanträgen, die außerfachlichen Motiven zugeschrieben wird;
– Enttäuschungen über den Verlauf von Berufungsverfahren;
– Sorgen um ein Überhandnehmen bürokratischer Regelungen für Forschung und Lehre;
– ein massives Unbehagen an der weitgehend auf Evaluation quantifizierbarer Parameter basierenden, betriebswirtschaftlichen Mechanismen unterliegenden Hochschulsteuerung.
Die Liste ließe sich vermutlich verlängern. Es bleibt zu beobachten, wie die Organisator:innen des Netzwerks diesen diffusen Anliegen gerecht werden. Zugleich wäre eine präzisierende Debatte darüber dringend geboten, für welche Probleme Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 GG überhaupt herangezogen werden kann. Wo nicht, sollte sich das Netzwerk ehrlich machen und politische Forderungen politisch diskutieren, statt das Narrativ der gefährdeten Grundrechte anzufeuern, das in der aktuellen politischen Debatte in Deutschland sein Unwesen treibt.
3)
Der Umgang mit dem Konzept des Narrativs scheint in der Geschichtswissenschaft noch des Nachdenkens zu bedürfen. Das überrascht, denn eigentlich gehört der Umgang mit Narrativen und anderen Deutungsrahmen zum Kerngeschäft der Wissenschaft: auf der Grundlage methodisch kontrolliert erhobener Daten plausible Deutungen der Vergangenheit zu erarbeiten bzw. plausible Quellendeutungen zu gewinnen. Die eigentliche Interpretation, die Zuschreibung der Bedeutung zu den erhobenen Befunden geschieht nicht in der Erhebung der einzelnen Daten selbst, sondern in ihrer Gruppierung, Zusammenstellung, Ausdeutung und Integration in Narrationen oder andere Argumentationen.
Deswegen kann das Zutreffen einer plausiblen Darstellung nicht durch die Benennung von Einzelfällen überprüft werden, sondern nur durch die Diskussion, ob der narrative oder argumentative Rahmen angemessen ist oder nicht. Deswegen ist es methodisch nicht möglich, Einzelfälle zu benennen, um damit die Existenz von Cancel Culture zu beweisen, die angeblich die verschiedenen Einzelfälle zu einem kohärenten Geschehen zusammenführt.
Die Kohärenzbehauptung unterliegt einer Beweispflicht, die den Zusammenhang belegen muss, nicht Einzelfälle aufzählt. Geschieht dies nicht, erscheint das Zitat von Einzelfällen lediglich als rhetorischer Trick, nicht aber als Bemühen um evidenzbasierte Argumentation. Zugleich sollte das Wissen um die Macht von Narrativen und die Macht des Framings dazu führen, Narrative und Framing als extrem wirkungsmächtige soziale Tatsachen ernst zu nehmen.