Abstract: At different times and on different continents, humans have had varying amounts of material possessions. These disparities can only be partially explained with reference to “poverty” or “lack of technology”. It is more important to ask which value people attribute to the materiality of objects in their personal surroundings. The human condition crystallizes itself, not least, in the structure of material possessions.
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2016-6300.
Languages: English, Deutsch
Zu unterschiedlichen Zeiten und auf verschiedenen Kontinenten verfügen Menschen über jeweils ganz andere Ausstattungen an Sachbesitz. Diese Differenzen sind nur zum Teil durch “Armut“ oder “fehlende Technologie“ zu erklären. Wichtiger sind die Fragen, welche Wertschätzung die Dinge im Sachbesitz erfahren haben, welchen Stellenwert man der Materialität der Objekte in der persönlichen Umgebung zuspricht. Die conditio humana drückt sich nicht zuletzt in einer Struktur von Sachbesitz aus.
Falsche Selbstverständlichkeit: Sachbesitz
Die Beschäftigung mit den Dingen des Alltags ist eine Herausforderung. Einerseits haben die historischen Wissenschaften über lange Zeit hinweg überwiegend nur Texte als Quellen rezipiert. Man glaubte, im Vergleich zu Texten würde Objekten des alltäglichen Lebens die eindeutige Aussagekraft fehlen, um verlässliche Auskunft über den Status von Gesellschaften zu geben. Andererseits gibt es kaum einen besseren Indikator für die Bedingungen des Alltags als die Sachgüterausstattung in den Haushalten der betreffenden Epoche. Sind nicht die Dinge, mit denen Menschen sich immer wieder umgeben, die am meisten überzeugenden Aspekte, um deren Alltag zu verstehen? Alltagsgeschichte und Sozialgeschichte bedürfen der materiellen Kultur, um ein überzeugendes Bild der Gesellschaften vergangener Epochen zu beschreiben.
Jenseits der Beschäftigung mit einzelnen herausragenden Objekten gibt es bislang jedoch nur wenige Versuche, den Sachbesitz von Menschen verschiedener Epochen und verschiedener Kulturen vergleichend zu beschreiben.
Konsumismus oder Individualismus? Oder?
Zugleich sind wir in der Gegenwart mit zahlreichen Annahmen über die Unterschiede zwischen dem Sachbesitz in Haushalten früherer Epochen und der Gegenwart konfrontiert. Populäre Diskurse, wie z.B. der der Konsumkritik, vertreten klare Auffassungen über den Verlust an Lebensqualität durch die Zunahme an Sachbesitz im 20. Jahrhundert. Tatsächlich gibt es keine Epoche in der Vergangenheit, die einen vergleichbaren Anstieg zu verzeichnen hatte wie die der vergangenen 70 Jahre. Nie zuvor haben Menschen mehr besessen als heute, nie zuvor wurde ein so hoher Anteil des Einkommens investiert, um den Sachbesitz zu vergrößern. Eine andere Interpretation erklärt die Zunahme an Dingen pro Person mit der zunehmenden Individualisierung unserer Gesellschaft. Menschen schaffen sich immer mehr Dinge an, um auf diese Weise ihre Identität in Abgrenzung gegenüber anderen zum Ausdruck zu bringen.
In einer Studie in der westafrikanischen Savanne wurde ein Sachbesitz z.B. von weniger als 100 Objekten pro Person gezählt.[1] Eine dörfliche Gemeinschaft in Ungarn, deren Sachbesitz in den 1930er Jahren untersucht wurde, zählt 300-1000 Objekte pro Haushalt.[2] Rezente Studien des Freilichtmuseums Detmold haben einen Sachbesitz von Jugendlichen in Deutschland heute von 1.500-3000 Objekten dokumentiert.[3] Was bedeuten diese Zahlen? Welcher Unterschied ergibt sich aus der Tatsache, dass zwischen den Bewohnern in einem afrikanischen Dorf und Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen der Sachbesitz um den Faktor 30 differiert?
Es geht um Multiplikation
Zunächst einmal ist festzustellen, dass diese Zahlen ein starkes Indiz für unterschiedliche Zugänge zu Materialität sind. Ganz offensichtlich hat man es hier mit unterschiedlichen Lebensweisen zu tun. Es geht um Differenzen, die in dieser Deutlichkeit in den Geschichtswissenschaften bisher kaum thematisiert wurden. Weder die Konsumgeschichte noch die Sozialgeschichte haben sich bislang mit der Frage befasst, was es bedeutet, nur 70-100 Gegenstände zu besitzen, oder, im Kontrast dazu, was Menschen mit Dingen machen, wenn ihr Sachbesitz so wie in der Gegenwart extrem angeschwollen ist.
Einige vorläufige Ergebnisse können hier beispielhaft angeführt werden. Aber es ist zu betonen, dass umfassende Untersuchungen noch ausstehen. So wurde in einer vergleichenden Studie über geringen und großen Sachbesitz festgestellt, dass die Zunahme an Gegenständen weniger mit der Integration neuer Objektkategorien zu tun hat, die es gleichwohl gibt (z.B. elektronische Geräte), sondern viel mehr mit der Multiplikation gleichartiger oder ähnlicher Dinge zu erklären ist.[4]
Im Kontext geringen Sachbesitzes gibt es z.B. einen Löffel pro Person, im großen Sachbesitz sind 7-10 Löffel pro Person die Regel. Die Mengen an Löffeln lassen sich wiederum in verschiedene Arten unterteilen. In der modernen Konsumgesellschaft besitzt jeder Einzelne mehrere Dutzend Teile von Oberbekleidung, in Gesellschaften mit geringen Sachbesitz gibt es nicht mehr als 1 bis 3 Hemden, Hosen usw. pro Person. Damit einher gehen auch unterschiedliche Formen des Umgangs mit diesen Dingen. Die wenigen intensiv genutzten Löffel nutzen sich tatsächlich ab. Die wenigen Kleidungsstücke werden länger getragen, sie werden auch verliehen, wenn eine Person in der Nachbarschaft dringenden Bedarf hat. Zwar kommt das Verleihen und Weitergeben von Kleidung auch in der Konsumgesellschaft vor, es ist aber vergleichsweise sehr viel seltener.
Sachbesitz als Deutungskosmos und Augenöffner
Neben diesen erkennbaren Kontrasten gibt es auch einige überraschende Übereinstimmungen. So zeigt die Untersuchung der Umgangsweisen in Haushalten, dass in allen Fällen nebeneinander intensiv genutzte und auch selten genutzte, wenn nicht gar vernachlässigte Gegenstände existieren.[5] Das Argument der Konsumkritiker, dass der große Sachbesitz dazu führen würde, sich kaum noch mit den Dingen auseinanderzusetzen, kann damit als widerlegt gelten. Auch im Kontext geringen Sachbesitzes gibt es viele Dinge, die nur selten oder nie gebraucht werden, und über deren Gegenwart sich der Besitzer kaum im Klaren ist. Es scheint zu den spezifischen Merkmalen der Sachgüterausstattung durch alle Epochen hinweg zu gehören, dass die einzelnen Dinge sehr unterschiedlich bewertet und geschätzt werden. Eine transepochale Geschichte des Sachbesitzes dürfte sich deshalb keinesfalls auf die wenigen hoch bedeutungsvollen und hoch geachteten Dinge beschränken. Gerade in der Beobachtung des alltäglichen Besitzes und der weniger beachteten Dinge eröffnet sich ein Weg, die Materialität von Gesellschaften unterschiedlicher Epochen zu verstehen.
Ein näherer Blick auf die alltäglichen Dinge vergangener Epochen oder auf anderen Kontinenten eröffnet einen unmittelbaren Zugang zur Lebensweise in jenen Gesellschaften. Gerade die signifikanten Unterschiede können als ein Ausgangspunkt dienen, um das Besondere einer jeden Epoche herauszustellen. Zusätzlich eröffnet der Blick auf diese Gegenstände eine Möglichkeit der Reflexion über den Sachbesitz der modernen Konsumgesellschaft. Geschichte erweist sich damit als ein Augenöffner, um anders über die Dinge zu denken, die jeder einzelne um sich hat.
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Literaturhinweise
- Carstensen, Jan / Düllo, Thomas / Richartz-Sasse, Claudia (Hrsg.): Zimmerwelten im Museum. Wie junge Menschen heute wohnen, Essen 2000.
- Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005.
- Steffen, Dagmar (Hrsg.) (1995): Welche Dinge braucht der Mensch? Gießen 1995.
Webressourcen
- Careers of things. Studies on the development concepts in material culture studies. Current project at Morphomata. International College of Cologne University: http://www.morphomata.uni-koeln.de/fellows/aktuelle-fellows/prof-dr-hans-peter-hahn/ (zuletzt am 1.6.2016).
- Andreas Ludwig, Materielle Kultur, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 30.05.2011: https://docupedia.de/zg/Materielle_Kultur (zuletzt am 1.6.2016).
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[1] Hahn, Hans P.: Die Sprache der Dinge und Gegenstände des Alltags. In: Sociologia Internationalis 44 (2006) 1, S. 1-19.
[2] Fél, Edit / Tamás Hofer: Geräte der Atanyer Bauern, Budapest 1974.
[3] Carstensen, Jan / Düllo, Thomas / Richartz-Sasse, Claudia (Hrsg.): Zimmerwelten im Museum. Wie junge Menschen heute wohnen, Essen 2000.
[4] Hahn, Hans P. / Spittler, G. / Verne, M.: How Many Things Does Man Need? Material Possessions and Consumption in Three West African Villages Compared to German Students. In: Hahn, H.P. (Hrsg.): Consumption in Africa, Münster 2008, S. 115-140.
[5] Hahn, Hans P.: Die geringen Dinge des Alltags. In: Braun, Karl et al. (Hrsg.): Materialisierung von Kultur. Diskurse – Dinge – Praktiken, Würzburg 2015, S. 28-42.
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Abbildungsnachweis
Materielles Inventar in einem Gehöft in einer ländlichen Siedlung in Burkina Faso. Sämtliche beweglichen Gegenstände wurden speziell für die Aufnahme vor den Eingang des Hauses gestellt. Der wertvollste Besitz dieser Familie ist das alte Fahrrad im Hintergrund. © Hans Peter Hahn, 2001.
Empfohlene Zitierweise
Hahn, Hans Peter: Wie viele Dinge? Sachbesitz und Materialität. In: Public History Weekly 4 (2016) 20, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2016-6300
At different times and on different continents, humans have had varying amounts of material possessions. These disparities can only be partially explained with reference to “poverty” or “lack of technology”. It is more important to ask which value people attribute to the materiality of objects in their personal surroundings. The human condition crystallizes itself, not least, in the structure of material possessions.
Wrong Certainties: Material Possessions
Dealing with things from our everyday life is challenging. On the one hand, historical sciences have, for a long time, only considered texts as sources in the proper sense of the term. There was a widespread belief that, in contrast to texts, objects of everyday life would lack the unambiguous expressiveness necessary to provide reliable information about the status of past societies. On the other hand, there is hardly any better indicator for the everyday conditions of a certain era than how households are equipped with material goods. Are not those things with which humans surround themselves of utmost significance for understanding their daily routines? Everyday history and social history depend on material culture in order to draw a convincing picture of societies of past epochs.
However, apart from the consideration of individual, outstanding objects, there have been few attempts to investigate, in a comparative fashion, the material possessions of people over time or between cultures.
Consumerism or Individualism? Or: what else?
At the same time, we are, today, confronted with numerous presumptions about the differences between material possessions of households in previous epochs and our current times. Popular critical discourses on topics such as consumerism are quite clear about the reduction of the quality of life caused by the increase in personal possessions in the 20th century. There has, indeed, never been an era that has recorded an increase comparable to that of the past 70 years. Never have people owned more than today; never have they spent such a large share of their income to augment their material possessions. A second interpretation claims that the growing individualization of our society has led to the increase in the number of possessions per person. From this point of view, people accumulate ever more things in order to differentiate themselves from others.
In a study conducted in the West African savanna, for instance, it was found that each individual possesses fewer than 100 objects.[1] In a rural community in Hungary that was studied in the 1930s, in contrast, 300 to 1000 objects per household were counted.[2] More recent studies of the open-air museum in Detmold documented that adolescents in Germany today own between 1500 and 3000 objects.[3] What do these figures mean? Which differences result from the fact that the number of personal possessions differs by a factor of thirty between the inhabitants of an African village and adolescents from North Rhine-Westphalia?
It’s about Multiplication
First, it has to be noted that these numbers represent markedly different approaches to materiality. We are, obviously, concerned with divergent ways of living. These differences have rarely been addressed explicitly in the humanities. Neither the history of consumption nor social history have concerned themselves with the question of what it means to own only 70-100 things or, in contrast, what people do with the numerous material possessions they have amassed, as is so clearly the case in the present.
In this text, some preliminary results are presented. However, it is necessary to realize that the issue has yet to be analyzed comprehensively. For instance, in a comparative study on small-scale and large-scale object ownership, it was found that the causes for the growth in the number of possessions cannot primarily be ascribed to the integration of new categories of objects ‒ such as electronic devices ‒ but are, rather, a result of the multiplication of functionally homologous or similar objects.[4]
Whereas, in the context of few material possessions, there is, for instance, only one spoon per person, 7 to 10 spoons per person usually appear in the context of more extensive material possessions. The number of spoons can then be subdivided into a variety of categories. Furthermore, in modern consumer society, one person owns several dozen pieces of clothing, whilst, in societies with fewer material possessions, a person may often own not more than one to three shirts, trousers, etc. These differences are accompanied by different ways in which the relevant objects are handled: The few spoons, which are intensely used, wear out; the few clothes are worn for a longer time and they are lent to neighbors in need. Lending of clothes also occurs in consumer societies, but it is, of course, much less frequent.
Material Possessions as a Cosmos of Interpretations and an Eye-Opener
Aside from these obvious contrasts, there are some surprising similarities. For instance, studies that tracked the handling of objects in households showed that, in all cases, intensively used things coexist with things that are rarely used or even neglected.[5] This observation refutes the consumerism critics’ claim that extensive material possessions would lead to a neglect of things in general: In the context of few material possessions, things that are seldom or never used also exist; the owners are often simply unaware of their existence. Differences in the evaluation and appreciation of particular things seem to be characteristic of material endowment over time. Thus, a trans-epochal history of material possessions cannot be restricted to the few highly meaningful and estimated things. Instead, it is precisely the observation of ordinary, every-day possessions and less noticed things that opens up ways to understand the materiality of societies in various epochs.
A closer look at the every-day objects of past epochs or of other continents facilitates direct access to the respective ways of life. Particularly significant differences can serve as a starting point to highlight the specifics of an epoch. Furthermore, examining these objects allows for reflection on the material possessions of modern consumer society. History, thus, proves to be an eye-opener, encouraging us to think differently about the things that surround each one of us.
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Further Reading
- Carstensen, Jan / Düllo, Thomas / Richartz-Sasse, Claudia (Eds.) (2000): Zimmerwelten im Museum. Wie junge Menschen heute wohnen. Essen: Klartext.
- Hahn, Hans P. (2005): Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin: Reimer.
- Steffen, Dagmar (Ed.) (1995): Welche Dinge braucht der Mensch? Gießen: Anabas.
Web Resources
- Careers of things. Studies on the development concepts in material culture studies. Current project at Morphomata. International College of Cologne University: http://www.morphomata.uni-koeln.de/fellows/aktuelle-fellows/prof-dr-hans-peter-hahn/ (zuletzt am 1.6.2016).
- Andreas Ludwig, Materielle Kultur, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 30.05.2011 [in German]: https://docupedia.de/zg/Materielle_Kultur (zuletzt am 1.6.2016).
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[1] Hahn, Hans P. (2006b): Die Sprache der Dinge und Gegenstände des Alltags. In: Sociologia Internationalis, 44 (1):p.1-19.
[2] Fél, Edit und Tamás Hofer (1974): Geräte der Atanyer Bauern. Budapest: Akadémiai Kiado.
[3] Carstensen, Jan, Thomas Düllo, und Claudia Richartz-Sasse (Ed.) (2000): Zimmerwelten im Museum. Wie junge Menschen heute wohnen. Essen: Klartext.
[4] Hahn, Hans P., G. Spittler, und M. Verne (2008): How Many Things Does Man Need? Material Possessions and Consumption in Three West African Villages Compared to German Students. In: Hahn, H.P. (Ed.): Consumption in Africa. Münster: Lit, p.115-140.
[5] Hahn, Hans P. (2015): Die geringen Dinge des Alltags. In: Braun, Karl et al. (Hg.): Materialisierung von Kultur. Diskurse – Dinge – Praktiken. Würzburg: Königshausen & Neumann, p.28-42.
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Image Credits
Material inventory of a farmhouse in rural Burkina Faso. For this photo, all movable objects were placed in front of the entrance to the house. The family’s most valuable possession is the old bicycle in the background © Hans Peter Hahn, 2001.
Recommended Citation
Hahn, Hans Peter: How Many Things? Material Possessions and Materiality In: Public History Weekly 4 (2016) 20, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2016-6300
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Categories: 4 (2016) 20
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2016-6300
Tags: Africa, Ethnological Approach, Material Culture (Materielle Kultur), Transculturality
[Die deutsche Übersetzung findet sich unter dem englischen Text.]
Material Possessions as Practice and Memory
Hans Peter Hahn directs our attention to private possessions that agglomerate in households of different civilizations when he points out that families in Western societies accumulate things in an extremely higher quantity compared to rural West African households. Thus, comparative ethnographic observation helps to understand the impact of material possession within private lives and focuses our attention on the results of a continuously developing consumer society. In recent years, Material Culture Studies have drawn our attention to the materiality of things and the traces of use they inherit, sociology and historiography have attempted to learn about the development of the Western consumer society as a model as well as the “agency” of things in shaping our individual practices within this material world. Indeed, looking at things may contribute to a deeper understanding of everyday life. But don´t we get lost in doing so if we follow the multiple directions material culture offers? My argument would be that we need to think about criteria that may help us structuring the exploration of the material word and as possible paths I would like to propose history, contemporaneity, the “biography of things”, the societal character of private possessions, and a functional approach towards material objects.
History as an argument refers to the dynamics in technological, economic, financial, and cultural development that shape the possibilities and hindrances in acquisition, use, and meaning of things over time and in different societies. The current Western consumer society has developed over 200 years and in medieval households the number of objects probably hasn´t been much different from what has been observed in West African rural households, today. Will the Western way towards a consumer society be a model there as well, will there be a continuing gap in consumption, or will there be mixed or totally different developments to be observed in the future? War destructions and forced migration caused severe ruptures in terms of the accumulation of material possessions. There is no clear lineal development to ever more things people own and keep.
Contemporaneity (Gleichzeitigkeit) is a term I would like to propose to draw our attention to the simultaneous existence of things that belong to different times and different people within households as well as within societies. People keep things that belonged to deceased family members, not only as personal memories but also for ethical reasons or simply because they cannot throw things away. This way, things accumulate to material time layers of functional and dysfunctional, meaningful and disregarded things that in a given space exist in coexistence.
The “biography of things” asks for the changing meaning of things over time. Once invented, produced, and displayed for purchase any object represents an individual “career” of use, care, disregard, discard, and possible cultural rediscovery. Objects, between production and extinction, have an active live-span as well as an inactive time of existence, they are loved and appreciated or forgotten and lost and can switch between these conditions. Things are not simply there but are connected with movable meaning.
Personal possessions have an explicit and implicit societal character. To the individual person or family who holds them, they may indicate distinction such as wealth, modern life-style, social status, cultural expertise, taste, or the opposite, or the urge to be identified in a distinct social position. But objects can also indicate interpretations and understanding of society as a relation between the individual and the collective. Does one use individual property or public infrastructure, does one purchase or rent, share things or keep them for personal use only? When outdated, are they given away or sold? Thus, individual practice forms societal understanding of property and adequate use of material culture as infrastructure.
This leads to a final argument which I would term the functional approach towards things. Things obviously are used as tools or daily assistance, things are needed to make things work. For most things to be done there a adequate objects to help and we are able to think of alternatives in using things in a different way than originally intended. But this bodily and intellectual use of things is only part of the functions, things may inherit. Objects are kept to help recollect memory, they a religious objects that have functions in rituals, as decor they influence individual well-being, and things are collected as a material form of appropriation of the world in miniature – the latter two being different forms of belonging.
Things accumulated in households, in any form of society, are structured within a cultural, social, and historical understanding of the individual within the world. This world is formed of relics and tools and people who use them in different ways at different times. Thus, things are “travelling” not only in time and space but also in meaning and the study of material culture is to follow their traces.
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Sachbesitz als Praxis und Erinnerung
Durch den Vergleich westlichen Dingbesitzes mit westafrikanischen Haushalten richtet Hans Peter Hahn unsere Aufmerksamkeit auf die Ansammlungen von Dingen in privaten Haushalten als materielle Kultur des Alltags. Auf diese Weise hilft die ethnographische Beobachtung den Einfluss materiellen Besitzes auf das private Leben und die Entwicklung der modernen Konsumgesellschaft zu verstehen. In den vergangenen Jahren haben objektzentrierte Forschungen deutlich zugenommen: Die Material Culture Studies rücken die Materialität der Dinge und die Spuren, die sich an ihnen ablesen lassen, in den Vordergrund, Soziologie und Geschichtswissenschaft haben sowohl die Entwicklung von Konsumgesellschaften westlichen Typs wie auch die “Agency” dingbezogener individueller Handlungspraxis in einer von Materialität bestimmten Welt untersucht. In der Tat kann die Untersuchung materieller Kultur und von Dingausstattungen zu einem vertieften Verständnis des Alltags beitragen. Aber führt die vielfache Bedeutung, die den Dingen anhaftet, nicht ins Unendliche? Die Untersuchung der materiellen Kultur, der Dingbedeutungen und Dingbeziehungen bedarf deshalb einer Strukturierung, also Überlegungen über mögliche Analysewege. Als begriffliche Hilfen möchte ich “Geschichte”, “Gleichzeitigkeit”, die “Biografie der Dinge”, “den sozialen Charakter” privaten Dingbesitzes sowie ein Nachdenken über “Funktionalitäten” vorschlagen.
Geschichte, die Historizität der Dinge, verweist auf die Dynamik der technologischen, ökonomischen und kulturellen Entwicklung, die die Möglichkeiten und Grenzen des Dingerwerbs, der Nutzung und der Bedeutung von Dingen über längere Zeiträume und in unterschiedlichen Gesellschaften rahmt. Die aktuelle westliche Konsumgesellschaft hat sich über 200 Jahre hinweg entwickelt, aber mittelalterliche Haushalte hatten vermutlich auch nicht mehr Dinge zur Verfügung, als heutige im ländlichen Westafrika. Ist die westliche Konsumgesellschaft also ein generelles Entwicklungsmodell, wird es dauerhafte Unterschiede in der Konsumption geben, wird es gemischte oder eigenständige Entwicklungen von Konsum in unterschiedlichen Gesellschaften geben? Auch Kriegszerstörungen und erzwungene Migration haben massive Brüche im Dingbesitz von Individuen und Familien hervorgerufen. Man kann deshalb nicht von einer linearen Entwicklung ausgehen, bei der Menschen immer mehr besitzen. Das Argument der Geschichte verweist auf longue durée und Brüche, Dynamik und Stillstand.
Gleichzeitigkeit ist ein Begriff, der auf eine historisch gewachsene Schichtung von Objektensembles aufmerksam macht, etwa die simultane Existenz von Dingen mehrerer Generationen in Haushalten oder in der Dingausstattung von Gesellschaften. Menschen heben Erbstücke auf, beispielsweise als Erinnerungsstücke, weil sie weiter genutzt werden, weil man nichts wegwerfen kann, die sich als materielle Zeitschichten akkumulieren aber als Ganzes wahrgenommen werden.
Die “Biographie der Dinge” fragt nach den veränderlichen Bedeutungen materieller Objekte über den Zeitraum ihrer Existenz. Nachdem Dinge erfunden, produziert und verkauft wurden, entwickeln sie eine individuelle “Dingkarriere” der Nutzung, der Pflege und Reparatur, der Vernachlässigung, des Wegwerfens oder der kulturellen Wiederentdeckung. Dinge haben also so etwas wie eine aktive Lebensspanne wie auch inaktive Zeiten von schierer Existenz. Sie werden geliebt und gebraucht, vergessen und verloren und sie können zwischen diesen Zuständen wandern. Dinge sind also nicht einfach da, sondern haben sich wandelnde Funktionen und Bedeutungen.
Der Besitz von Dingen hat einen sozialen Charakter, indem ihnen soziale Distinktion zugeschrieben wird, sie signalisieren Wohlstand, modernen Lebensstil, sozialen Status, kulturvolles Leben, Geschmack – oder eben auch das Gegenteil. Dinge können ein bestimmtes Verständnis von Gesellschaft als Beziehungsgeflecht zwischen Individuen wie auch von Kollektiven repräsentieren. Wird persönlicher Besitz oder öffentliche Infrastruktur genutzt, werden Dinge gekauft oder geliehen, werden sie eifersüchtig gehütet oder geteilt, verkauft oder verschenkt, wenn sie nicht mehr gebraucht werden? Individuelle Dingpraktiken verweisen auf eine soziale Interpretation von Besitz und dessen angemessenen Gebrauch, wenn man Dinge als materielle Infrastrukturen einer Gesellschaft interpretiert.
Schließlich der Begriff der funktionalen Bedeutung von Dingen, der bewusst weit gezogen wird. Dinge sind Artefakte, die als Werkzeuge oder Hilfe für Alltagsroutinen benötigt werden. Für die meisten dieser Routinen haben wird adäquate Objekte, die uns helfen, oder wir nutzen Dinge auf unsere eigene Weise. Diese körperliche und von Können und Verstand geprägte Weise, Dinge zu nutzen, reicht aber nicht, ihre Funktionalität vollständig zu erklären. Dinge haben auch eine Erinnerungsfunktion, dienen als religiöse oder rituelle Objekte, als Dekor, das dem Wohlgefühl dient. Dinge werden auch gesammelt, sie dienen dann einer selbstgewählten, individuellen Weltaneignung oder, als Museum, dem kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft. Dinge materialisieren also die Welt als Ort.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die materielle Kultur, wie sie in Haushalten zusammengetragen, aber auch in jeder Form von Gesellschaft komponiert ist, kulturell, sozial und historisch bedingt ist und das Individuum mit der Welt in Verbindung setzt. Momentaufnahmen, wie der Vergleich des Dingbesitzes, verweisen dabei auf Synchronität: Diese Welt besteht aus Dingen und den Menschen, die sie auf jeweils unterschiedliche Art nutzen. Zu ergänzen wäre: Dinge sowie die Kompositionen, in denen sie vorkommen, verändern sich aber auch im Zeitverlauf, dies ist das Argument des diachronen Vergleichs. Auf diese Weise “wandern” die Dinge zwischen Zeiten, Orten, Nutzungsweisen und Bedeutungen und das Studium der materiellen Kultur bedeutet, den Spuren, die sie hinterlassen, zu folgen.