Der „späte Sieg der Diktaturen“ – Resultat ergebnisoffenen Unterrichts?

 

Abstract: „Surely a grade of 33 in 100 on the simplest and most obvious facts of American history is not a record in which any high school can take pride.“ Dieser Satz fasst das Ergebnis einer Schülerbefragung zusammen. In dem amerikanischen Blog „History News Network“ wurde zu dieser Aussage die Frage gestellt, aus welchem Jahr das Zitat stamme: 1987, 1976, 1942 oder aus keinem dieser Jahre. Das Letzte ist richtig. Denn der Satz stammt aus einer Studie von 1917.1
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1578.
Languages: Deutsch


„Surely a grade of 33 in 100 on the simplest and most obvious facts of American history is not a record in which any high school can take pride.“ Dieser Satz fasst das Ergebnis einer Schülerbefragung zusammen. In dem amerikanischen Blog „History News Network“ wurde zu dieser Aussage die Frage gestellt, aus welchem Jahr das Zitat stamme: 1987, 1976, 1942 oder aus keinem dieser Jahre. Das Letzte ist richtig. Denn der Satz stammt aus einer Studie von 1917.1

Mangelhafte Geschichtskenntnisse

Nun fand diese Untersuchung nicht in Deutschland, sondern in den USA statt, vor fast einhundert Jahren. Aber Vorsicht: Ähnliche Umfrageergebnisse lassen sich sowohl für andere Länder als auch für Deutschland relativ problemlos dokumentieren. Legendär ist zum Beispiel die Studie des Kieler Diplompädagogen Dieter Boßmann „Was ich über Adolf Hitler gehört habe…“ von 1977.3 „‚Nichts, leider’, formulierte eine 16-jährige Berufsschülerin. Tatsächlich ist Unkenntnis die Regel. Dem äußerst geringen Sachwissen entsprechen die vielfach abstrusen Wertungen.“ Der Autor nenne das Ergebnis „eine blanke Katastrophe“, wusste der SPIEGEL darüber zu berichten – womit wir beim Thema wären. Was diese Studien und ihre folgende mediale Verarbeitung schon immer ausmachte, ist nicht die Tatsache mangelnden Wissens an sich. Der Anlass zur Kritik liegt stattdessen darin, dass unzureichendes Wissen mit Werturteilen in Verbindung gebracht wird. Während die Mängel etwa in Mathematik mit dem Verlust der wirtschaftlichen Zukunftsfähigkeit des Landes assoziiert werden, steht beim lückenhaften Geschichtswissen mindestens die Stabilität der deutschen Demokratie auf dem Spiel. Als Urheber dieser Defizite wird umstandslos die Schule ausgemacht. Obwohl gerade bei historischem Wissen und geschichtsbezogenen Werturteilen solche einfachen kausalen Schlüsse wissenschaftlich alles andere als bewiesen sind, garantieren sie maximale Aufmerksamkeit. Ob historische Werturteile auch oder sogar stärker außerhalb des schulischen Kontextes vermittelt werden, steht dabei zumeist nicht zur Debatte.

Demokratiedefizit oder schlechte Lesekompetenz?

Gänzlich unbeeindruckt zeigt sich in dieser Hinsicht auch der Berliner Politologe Klaus Schroeder, der 2012 eine Studie über „zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen“ mit dem Titel „Später Sieg der Diktaturen“ vorgelegt hat, die große Kenntnisdefizite bei deutschen SchülerInnen über Zeitgeschichte zeigen wollte. Und erneut war es der SPIEGEL, der auf dieser Grundlage Aufklärung in Sachen Bildung und Schule an seine Leser brachte.4 Schroeder meint, bei Zehntklässlern ein Demokratiedefizit entdeckt zu haben, weil die Jugendlichen bei Fragen wie „Die (unterschiedlichen) Planwirtschaften des NS und der DDR sind nicht besser oder schlechter als die Marktwirtschaften der BRD vor und nach der Wiedervereinigung“ das Kreuz nicht bei „Lehne voll ab“ gemacht haben. Die berechtigte Frage, ob SchülerInnen solche Sätze überhaupt verstehen oder nur sozial erwünschte Antworten geben, sind Schroeder zu feinsinnig.

„Ergebnisoffener Unterricht“ als Ursache?

In einer Pressemitteilung macht er jedenfalls aus der für ihn daraus resultierenden, simplen Verbindung von „fehlendem“ Wissen und „falschem“ Urteil gar keinen Hehl: „Als Konsequenz aus den Ergebnissen unserer Befragungen halten wir eine Werteorientierung im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik im zeitgeschichtlichen Schulunterricht für unverzichtbar. Die Werte einer freiheitlichen Demokratie – Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus – müssen die Grundlage für die Beurteilung von Systemen bilden. Schulunterricht darf nicht prinzipiell ‚ergebnisoffen‘ sein, sondern nur bezogen auf den Spielraum im Rahmen einer pluralistischen Demokratie.“5 Diese Schlussfolgerung ist erklärungsbedürftig. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Es ist doch gar nicht abzustreiten, dass fehlendes Wissen und mangelndes Urteil miteinander zu tun haben. Aber wo ist die Logik des von Schroeder konstruierten Zusammenhangs? Er hat überhaupt nicht untersucht, ob bei den befragten Schülern ein „ergebnisoffener“ Unterricht durchgeführt wurde, was auch immer Schroeder darunter verstehen mag. Insofern ist es mit der Validität der Untersuchung nicht weit her.

Wertevermittlung im Gespräch

Meine Vermutung geht eher in eine andere Richtung, dass nämlich der Unterricht genau so „wertorientiert“ abgehalten wurde, wie es Schroeder als Ziel vorschwebt. Dafür gibt es im Hinblick auf den Unterricht zum Nationalsozialismus starke Belege.6 Die Schüler sind vermutlich mit den „Vorzügen“ der Bundesrepublik und den „Konstruktionsfehlern“ der DDR konfrontiert worden. Das Problem besteht dabei darin, dass eine solche „Wertorientierung“ erheblich mit den Erzählungen, die in der Geschichtskultur präsent sind, kollidiert. Wie sollen Lernende damit umgehen? Sie können verwirrt sein, sie können den Widerspruch verdrängen, sie können den Schulstoff nachplappern oder sich dagegen auflehnen. Wäre es nicht sinnvoller, mit ihnen darüber zu sprechen? Insofern würde ich die These wagen, dass ein Geschichtsunterricht, wie ihn Schroeder fordert, genau zu den Ergebnissen führt, die seine Untersuchung hervorgebracht hat.

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Literaturhinweise

  • Schroeder, Klaus u.a.: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt/M. u.a. 2012.
  • Monika Deutz-Schroeder / Klaus Schroeder: Oh, wie schön ist die DDR. Kommentare und Materialien zu den Ergebnissen einer Studie, Schwalbach/Ts. 2009.
  • Rothe, Valentine: Werteerziehung und Geschichtsdidaktik. Ein Beitrag zu einer kritischen Werteerziehung im Geschichtsunterricht, Düsseldorf 1985.

Webressourcen

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Abbildungsnachweis

(c) andi-h  / pixelio.de

Empfohlene Zitierweise

Bernhardt, Markus: Der “Späte Sieg der Diktaturen” – Resultat ergebnisoffenen Unterrichts? In: Public History Weekly 2 (2014) 9, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1578.

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  1. Wineburg, Sam: We need to Develop New Ways to Teach Students History. In: History News Network (Georg Mason University). URL: http://www.hnn.us/article/761 (zuletzt am: 12.2.2014).
  2. Wineburg, Sam: We need to Develop New Ways to Teach Students History. In: History News Network (Georg Mason University). URL: http://www.hnn.us/article/761 (zuletzt am: 12.2.2014).
  3. Boßmann, Dieter: „Was ich über Adolf Hitler gehört habe…“ Auszüge aus 3042 Aufsätzen von Schülern und Schülerinnen aller Schularten der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/M. 1978.
  4. Leppin, Jonas : Große Schüler-Befragung: Hitler oder Honecker? Mir doch egal!. In: Spiegel Online v. 27.6.2012. URL: http://www.spiegel.de/schulspiegel/schueler-wissen-wenig-ueber-ddr-und-nationalsozialismus-a-841157.html (zuletzt am: 12.2.2014).
  5. Schroeder, Klaus et al.: Zusammenfassung: „Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen“, Pressemitteilung, Berlin 2012, S. 8; URL: http://www.havemann-gesellschaft.de/fileadmin/Redaktion/Aktuelles_und_Diskussion/2012/2012_06_25_Zusammenfassung_Sp__ter_Sieg_PK__1_.pdf (zuletzt am 6.3.2013)
  6. Meseth, Wolfgang / Proske, Matthias / Radtke, Frank-Olaf (Hrsg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt/M./New York 2004; Meik Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach: Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. Berlin 2007.

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DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1578

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  1. Klagen über die Mängel der Jugend gab es schon in einer Zeit, welche die heute als Klassiker verehrten Geistesgrößen ihrerseits als eine bessere angesehen haben. Ginge es also nur darum, dieser unendlichen Geschichte ein weiteres Kapitel anfügen zu wollen – dieses Ziel hätte sich auf einem anderen, einfacheren Weg vermutlich besser erreichen lassen als mit jahrelanger Forschung über die Geschichtskenntnisse von Jugendlichen.

    Doch erstens geht es hier nicht um eine Schuldzuweisung oder ein Lächerlichmachen von Jugendlichen und zweitens hänge ich einem Verständnis von Forschung an, in dem die (vorläufige) Antwort auf eine Frage nicht eine Determinante, sondern nur das Ergebnis von Forschung sein kann. Die Popper’sche Maxime, dass Forschende stets nach der Widerlegung ihrer Hypothesen streben sollen, mag sich im Wissenschaftsalltag nicht immer in der reinen Form umsetzen lassen. Das ändert aber nichts daran, dass sie ein Ideal ist und bleibt.

    Sinn und Zweck von Forschung kann also nicht sein, zu zeigen, was man zeigen wollte oder sogar immer schon wusste. (Ein solches Verständnis würde allerdings erklären, weshalb Markus Bernhardt ausweislich der angegebenen Literatur zu glauben scheint, dass nicht nur Ergebnisse, sondern auch die Reaktionen auf ein erst 2012 abgeschlossenes Forschungsprojekt bereits im Jahre 2009 publiziert werden konnten.) Doch in dem Projekt, aus dem das Buch “Später Sieg der Diktaturen?“ hervorgegangen ist, ging es nicht um erwünschte Antworten, sondern um die Fragen, wie es mit dem Wissen Jugendlicher über die deutsche Zeitgeschichte in vergleichender Perspektive bestellt ist und ob es einen Zusammenhang zwischen den Geschichtskenntnissen und -urteilen gibt.

    Die Resultate sind durchaus interessant. So ist das Wissen der Jugendlichen über die einzelnen Phasen der jüngsten deutschen Geschichte sehr unterschiedlich. Dieses Muster zeigt sich quer durchs Land und durch die Schultypen. Zugleich können Jugendliche den Charakter des NS-Regimes, der DDR sowie der Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung umso besser einschätzen, je mehr sie über dieses System wissen. Das gilt nicht nur für die allgemeine Einordnung als Demokratie oder Diktatur, sondern auch für spezifischere Fragen z.B. nach der individuellen Freiheit oder der Rechtsstaatlichkeit.

    Bemerkenswert sind auch die Ergebnisse eines im Rahmen des Projekts durchgeführten faktoriellen Surveys. Hier wurden politische Einstellungen unabhängig von konkreten Staaten und politischen Systemen erhoben. Dabei zeigten die Jugendlichen eine eindeutige Präferenz für freiheitliche Systeme. Dass sie sich zugleich kritisch gegenüber einem System verhalten, welches die als unentbehrlich gelehrten Regeln für sich selbst regelmäßig außer Kraft setzt, ist gewiss kein Defizit, sondern erfreulich. Weniger erfreulich ist es dagegen, wenn den Jugendlichen das Wissen fehlt, politische Systeme gemäß ihren eigenen Maßstäben und Überzeugungen beurteilen zu können. Denn dann steht dem opportunistischen Nachplappern nichts mehr im Wege.

    Das Wissen der Jugendlichen erklärt bis zu 30 Prozent der Varianz in ihren Urteilen und damit mehr als alle anderen getesteten Faktoren. Das ist ein mehr als deutlicher Hinweis darauf, dass verordnete “Überzeugungen“ und die Benotung einer brav reproduzierten Gesinnung allzu tragfähig nicht sind. Warum glaubt Markus Bernhardt, Klaus Schroeder hätte angesichts dieser Ergebnisse einer solchen das Wort geredet?

    Mir scheint, dass hier zumindest ein Missverständnis vorliegt. Die Ergebnisse der Studie lassen vermuten, dass ein Geschichtsunterricht, der sich stärker an der Geschichte als an einer Gesinnung orientiert, sehr viel eher geeignet ist, z.B. ein Verständnis für die menschenverachtende Natur der beiden jüngsten deutschen Diktaturen zu vermitteln. Die Werteordnung des Grundgesetzes bietet dafür einen Rahmen. Dieser ist selbstverständlich nicht sakrosankt, aber doch auch kein ganz schlechter Ausgangspunkt. Vor allem aber verbietet dieser Rahmen einen Geschichtsunterricht, der das Sein dem Sollen anpaßt, etwa weil die DDR als theoretische und historisch-praktische Alternative (so wie in einem nordrhein-westfälischen Lehrplan) aufzutauchen hat.

    Wertorientierung in diesem Sinn hat auch deshalb mit Ideologisierung nichts zu tun, weil sie in einem freiheitlichen Rechtsstaat kein positives Programm sein kann. Es muss offenbleiben, ob das zu schützende Gut die Menschenwürde, der Grundrechtskatalog, der gute alte Dreiklang von life, liberty und property oder noch etwas anderes ist. Diese Ungewissheit im besten Sinne ist eine Herausforderung für die Schülerinnen und Schüler genauso wie für ihre Lehrerinnen und Lehrer. Doch wenn es gelingt, sie auszuhalten, steht sie dem Eintrichtern sozial erwünschter Phrasen entgegen und eröffnet darüber hinaus idealerweise den Raum für eigenständige Auseinandersetzung.

    Möglicherweise habe aber auch ich Markus Bernhardt missverstanden. Vielleicht ist seine Auseinandersetzung mit Presseberichten über diese Studie vielmehr der Auslöser für eine tiefergehende Kritik an dem heute noch praktizierten Schulmodell der prämilitärischen Anstalt. Dahinter könnte die Befürchtung stehen, dass einem System mit Schulpflicht und quasi nicht existenten Gestaltungsspielräumen der Gesinnungsunterricht nur schwer auszutreiben sein dürfte.

    Solche Gedanken sind nicht von der Hand zu weisen. Wie ihnen unter den Bedingungen der aktuellen Bildungsrealität jedoch Rechnung getragen werden kann, ist eine schwierige Frage. Immerhin scheinen wir uns darüber einig zu sein, dass es für das menschliche Zusammenleben förderlicher ist, wenn Menschen lernen, ungeachtet aller politischen Überzeugungen die Rechte der anderen zu achten und einander nicht zu verletzten, als wenn sie stets die richtigen Sprechblasen absondern. Das ist doch ein guter Anfang.

  2. Eine Studie und der “späte Sieg der Diktaturen“
    “Historischen Analphabetismus” und unklare konzeptionelle Vorstellungen von Demokratie und Diktatur konstatierten Schroeder und Deutz-Schroeder bereits 2008 im Ergebnis ihrer empirischen Studie zu Schülerwissen und Schülerurteilen über die DDR.[1] Die Eindringtiefe schulischer Bildung sei gering, familiär tradierte Erinnerungen und medial inszenierte Geschichten seien dagegen wirkmächtig. Außerschulisch erworbene Werturteile und defizitäres historisches Wissen stünden somit einer den Maßstäben der freiheitlich-demokratischen Grundordnung angemessenen Werturteilsbildung entgegen. Während in Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik die Studie kritisch bis distanziert diskutiert wurde,[2] reagierten Medien und Bildungspolitik[3] sensibel auf die alarmierenden Befunde aus deutschen Klassenzimmern. Auch im Ergebnis der 2012 publizierten Nachfolgestudie kann von einer “Diktaturaffinität” der deutschen Schülerschaft keine Rede sein. Dennoch stimmen die unklaren Demokratie- und Diktaturkonzepte gepaart mit Wissensdefiziten die Autoren nachdenklich. Sie verlangen nach bildungspolitischen Konsequenzen und plädieren für eine klare Wertorientierung im Bereich historisch-politischer Bildung.[4] Anders als die mediale Inszenierung der Studienergebnisse vermuten lässt, überraschen weniger die Befunde. Diskussionswürdig sind die immanenten geschichts- und bildungspolitischen Prämissen der Studie.

    Die Studie hat mit ihrer Frage nach der Interdependenz von Wissen und Werturteilsbildung ein bekanntes Schlüsselproblem historischen Lernens in den Blickpunkt der öffentlichen Diskussion gerückt. Die empirisch fundierende Untersuchung folgt einem totalitarismustheoretisch inspirierten komparatistischen Ansatz. Dieses keineswegs unumstrittene Modell durchdringt die Studie von der Konstruktion der Items über die Auswahl der Gedenkstätten bis zur Interpretation der Befunde. Durch den impliziten Hang zu affirmativem Demokratielernen geraten historisierende Betrachtungen der dreifachen deutschen Zeitgeschichte zwischen die Mühlsteine von scheinbar alternativlosen Faktenwissen und gegenwartsgebundenem Werturteil. Historische Analyse, historisches Sachurteil oder differenzierende Werturteile weichen polarisierendem Urteil. Dies kann man geschichtstheoretisch oder ideologiekritisch diskutieren, aber auch als methodisches Problem quantitativer Untersuchungen in Rechnung stellen.

    Weniger überraschend sind dagegen die Befunde der Studie. Hier begegnet einem eher Bekanntes. Untersuchungen von Bodo von Borries, Meik Zülsdorf-Kersting oder Sabine Moller kommen zu ähnlichen Befunden, die sie jedoch weniger defizitorientiert, sondern eher strukturell als Phänomene von Geschichtsbewusstsein und zeithistorischem Lernen interpretieren.[5] Im empirischen Sinne beschreiten die beiden Studien des Forschungsverbundes SED-Staat somit kein Neuland. Im geschichtspolitischen Sinne taugen sie jedoch in vielerlei Hinsicht als Lehrstück.

    Erstens bestätigt die breite Resonanz auf die Studie die anhaltende öffentliche und vor allem bildungspolitische Attraktivität instruktionaler und damit affirmativer Lernvorstellungen. Daher scheint gerade in den neuen Bundesländern die von zahlreichen empirischen Großprojekten begleitete Suche nach der “Einheit in den Köpfen” nur schwer mit den theoretischen Höhenflügen der geschichtsdidaktischen Kompetenzdebatte oder den Leitbildern eines kritischen Geschichtsbewusstseins vereinbar. So könnte man zumindest die anhaltenden öffentlichen Debatten zum Umgang mit der DDR-Geschichte interpretieren.

    Zweitens bedient, fördert bzw. spiegelt die Studie eine für die Gegenwartskultur spezifische Form des Umgangs mit der doppelten deutschen Diktaturgeschichte – die Opferzentrierung[6] und den damit verbundenen “ethischen Charakter des Vergangenheitsbezugs”.[7] Inhaltlich erklärt dieser die Konzentration auf Repression und Herrschaft; während Formen der Anpassung, Verweigerung oder des Mitmachens in der Diktatur, d.h. die für historisches Lernen kritisch zu diskutierenden Fragen nach Handlungsspielräumen und Bindungskräften, unterbelichtet bleiben oder als Verharmlosung kritisiert werden.[8] Im Sinne eines “negativen Gedächtnisses” gerinnt der identitätsstabilisierende Vergleich von Demokratie und Diktatur zu einem Ritual öffentlicher Erinnerungskultur.

    Drittens fördert diese bereits von Rüsen beobachtete Aufwertung der moralischen Dimension der Geschichtskultur den Trend zur Enthistorisierung, da “Wertmaßstäbe der Gegenwart zur Beurteilung vergangenen Geschehens”[9] heranzogen werden. Dass dieser Moralisierungstrend im Feld der historisch-politischen Bildung in ein “vergangenheitsgefärbtes Demokratielernen”[10] münden könne und mit dem wissenschaftlichen Anspruch distanzierender Analyse und dem unterrichtlichen Ziel kritischer Identitätsreflexion kaum vereinbar ist, hat bereits Volkhard Knigge in seinen Überlegungen zur Zukunft der Erinnerung im Bereich der Gedenkstätten kritisch diskutiert.

    Hielten diese kurz skizzierten geschichtskulturellen Trends Einzug in Curricula und Schulzimmer, dann würde ich von einem “späten Sieg der Diktaturen” sprechen. Uneingeschränkt stimme ich jedoch den Autoren der Studie zu, dass eine in den Stundentafeln der Länder beobachtbare Marginalisierung des Faches Geschichte unreflektierter, aber auch undifferenzierter Werturteilsbildung Vorschub leistet.

    Anmerkungen:
    [1] Vgl. Deutz-Schroeder, Monika / Schroeder, Klaus: Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern – ein Ost-West-Vergleich, München 2008. Ergebnisse auch prägnant zusammengefasst in dies.: Diktatur und Lebenswelt. Das DDR-Bild von Schülern im Ost-West-Vergleich. In: politische Bildung (2008) 4, S. 68-88, hier S. 85-87.
    [2] Vgl. u.a. von Borries, Bodo: Vergleichendes Gutachten zu zwei empirischen Studien über Kenntnisse und Einstellungen von Jugendlichen zur DDR-Geschichte, Hamburg 2008 (hier online, zuletzt am 25.3.14); Martin Sabrow: Wie, der Schüler kennt den Dicken mit der Zigarre nicht? In: FAZ vom 4. Februar 2009 (hier online, zuletzt am 25.3.14).
    [3] Vgl. u.a. Sitzung des Enquete-Kommission des Landestages Brandenburg vom 20. Mai 2011 (hier online, zuletzt am 25.3.14).
    [4] Vgl. Deutz-Schroeder, Monika u.a.: Ungleiche Schwestern? Demokratie und Diktatur im Urteil von Jugendlichen (hier online, zuletzt am 25.3.14).
    [5] Vgl. Handro, Saskia: Die “richtige“ Geschichte der DDR. Überlegungen zum Verhältnis von Zeitgeschichte und historischem Lernen. In: Landesinstitut für Schule und Medien in Berlin-Brandenburg (LISUM) (Hrsg.): “Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte” Deutschland im Ost-West-Konflikt und die Friedliche Revolution von 1989. Materialien zur Implementierung der Rahmenlehrpläne Geschichte und Politische Bildung im Land Brandenburg, Berlin 2009, S. 7-17 (hier online, zuletzt am 25.3.14).
    [6] Vgl. Jureit, Ulrike: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010.
    [7] Vgl. Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 207.
    [8] Vgl. Debatte um die Gedenkstättenkonzeption des Bundes in Sabrow, Martin u.a. (Hrsg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Bonn 2007.
    [9] Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u.a. 2013, S. 239.
    [10] Volkhard Knigge: Zukunft der Erinnerung (hier online, zuletzt am 25.3.14).

  3. Politisierung und Delegitimierung. Klaus Schroeder und der „Späte Sieg der Diktaturen“

    Ein Rundumschlag
    Markus Bernhardt ist für seine Kritik von Klaus Schroeders Band “Später Sieg der Diktaturen? Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen” zu danken. Seine Kritik kann und muss ergänzt werden. Obwohl es in ihrer Veröffentlichung um die Ergebnisse einer Studie über die Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen zur Zeitgeschichte geht, nehmen Schroeder und sein Team die Gelegenheit wahr, sich über 40 Seiten zur Didaktik der Geschichte als solche zu äußern – in deren Verständnis eine “Teildisziplin der Pädagogik”. Dabei werden auch vielerlei meinungsstarke Urteile verteilt – ein paar Beispiele: Annette Kuhn (Geschichtsdidaktik als “revolutionäre Hilfswissenschaft”), Hans-Jürgen Pandel (“verfälscht sogar historische Fakten”, “ideologiegesättigtes Konzept”), FUER Geschichtsbewusstsein (“Nabelschau”, “arbeitsbeschaffende Selbstbespiegelung”, “politische Intentionen”), Bodo von Borries (“ideologische Schlagseite/Brille”; er verwende ein Zitat “ohne jedoch eine Quelle dafür anzugeben”, “kümmerliche eigene Operationalisierung”), Harald Welzer (“triviale Ergebnisse”), Carlos Kölbl (“enttäuschend”) oder Jörn Rüsen und Sabine Moller (“Realitätsferne”).
    In ihrem Fazit über die in der Studie vorgestellten Arbeiten aus der Geschichtsdidaktik fallen Schroeder und seinem Team schließlich “einige explizite Gemeinsamkeiten ins Auge: Aus vielen Studien spricht eine Geringschätzung von Kenntnissen über Geschichte (…) viele der hier dargestellten Studien (erwecken) den Eindruck, ihre Fragestellung ideologiegeleitet zu untersuchen.” Es würden “stark politisierte Versionen vorgegeben bzw. als korrekt betrachtet. Damit aber stehen Ergebnisse, zumindest der Tendenz nach, bereits vor der eigentlichen Untersuchung fest. Solche Forschung ist aber mindestens fragwürdig, wenn nicht überflüssig zu nennen, gleichwohl in der Geschichtsdidaktik weit verbreitet.”

    Wertevermittlung durch individuelle Urteilsbildung
    Schroeders Sottisen zielen auf eine Delegitimierung von konkurrierenden Deutungsangeboten. Die Didaktik der Geschichte sei in großen Teilen erstens politisch verdächtig und zweitens als Disziplin nicht wissenschaftswürdig. Doch nicht nur dies: Mit diesem, nun ja, nicht gerade feinem Versuch, kontroverse Positionen aus dem Felde zu schlagen, wird die Legitimität der Kontroversität als solche unter Verdacht gesetzt. Mit einer Betonung des kategorialen Status‘ von Multiperspektivität wird aber nicht, wie implizit unterstellt, einer normativen Beliebigkeit das Wort geredet oder Ostalgie befördert bzw. gar eine Aufwertung von Einlassungen ehemaliger Stasi- und SED-Kader betrieben. Die genannten Prinzipien haben nicht nur fachdidaktischen Wert, sondern sind Kennzeichen demokratischer Gesellschaften. Und daraus folgt: Die Demokratie ist nicht allein Unterrichtsgegenstand, sondern auch Unterrichtsprinzip. Und dies heißt, im Unterricht in diskursiver Auseinandersetzung die individuelle wie rationale und, selbstredend, faktengestützte Urteilsbildung zu fördern. Und dies heißt auch, Kontroversität auszuhalten sowie diskursiv zu kultivieren und nicht zu delegitimieren. Überwältigung dagegen ist das Gegenteil einer Schülerorientierung.
    Die Vereinbarungen des Beutelsbacher Konsenses aus den 1970ern waren auch eine Reaktion auf eine Art der Politisierung des Unterrichts nach 1968. Heute müssen der Konsens und sein Kontroversitätsgebot bildungspolitisch gegen die politisierenden Überwältigungsversuche von Klaus Schroeder und den ebenso raumgreifenden wie aggressiv vorgetragenen Geltungsansprüchen seiner Deutungen verteidigt werden. Die Brandenburger Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Land Brandenburg nach 1990 bezieht hier in der Grundsatzfrage klar Stellung. In ihrem von allen im Landtag vertretenen Parteien getragenen Abschlussbericht betont die Kommission explizit die Bedeutung des Beutelsbacher Konsenses für die historisch-politische Bildung. Ihr sei gedankt.

    Literatur:
    Abschlussbericht der Enquete-Kommission 5/1 „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg (Drucksache 5/8500) [Potsdam 2014].
    Klaus Schroeder, Monika Deutz-Schroeder, Rita Quasten, Dagmar Schulze Heuling: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile bei Jugendlichen. Frankfurt am Main 2012.

  4. Replik

    Es ist erfreulich, dass Dagmar Schulze Heuling ein Diskussionsangebot der Erträge der Schroeder-Studie unterbreitet. Nun denn! Ich übergehe den netten Versuch, mir mangelnden Einblick in das Buch von 2012 zu unterstellen und komme gleich zur Sache.

    Ich streite gar nicht ab, dass die Untersuchung zu Ergebnissen geführt hat, die auf einer sauber durchgeführten Erhebung fußen. Saskia Handro hat das dankenswerterweise deutlich erläutert – mit dem schon von mir vorgebrachten Hinweis, dass hier nichts Neues zu Tage gefördert worden ist. Sie hält allein – völlig zu Recht – die “immanenten geschichts- und bildungspolitischen Prämissen der Studie” für diskussionswürdig. Und darum geht es mir: Das politologische Forscherteam ist auf einen Blindfleck aufmerksam zu machen, den seine Mitglieder offensichtlich gar nicht wahrnehmen. Sie haben die qualitativen Vorannahmen ihrer Studie nicht genügend oder gar nicht reflektiert.
    An die Stelle dieser fehlenden Reflexion tritt unter anderem der Versuch, mit Polemik und einem politischen “Rundumschlag”, wie Christoph Hamann sehr schön herausgearbeitet hat, die Ergebnisse der geschichtsdidaktischen Forschung zu delegitimieren.

    Im Gegensatz dazu formuliere ich ganz fachlich, dass die Schroeder-Studie gar keine wissenschaftlich fundierte Fragestellung hat. Sie bedient vielmehr ein diffuses Unbehagen in Teilen der Gesellschaft, dass den Opfern der SED-Diktatur von jungen Leuten nicht genügend Beachtung geschenkt werde, und liefert eine Antwort darauf: Das liege am mangelnden “Wissen” der Jugendlichen. Ich greife zur Erläuterung zwei Sätze aus Frau Schulze Heulings Kommentar heraus: “So ist das Wissen der Jugendlichen über die einzelnen Phasen der jüngsten deutschen Geschichte sehr unterschiedlich … Zugleich können Jugendliche den Charakter des NS-Regimes, der DDR sowie der Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung umso besser einschätzen, je mehr sie über dieses System wissen.” Das mag schon sein. Aber der Kern des Problems liegt in der vom Forscherteam nicht gestellten Frage, was dieses “Wissen” überhaupt ausmacht. Was bedeutet es, Wissen “über dieses System” zu besitzen? An welchen Merkmalen erkennt man, dass jemand beispielsweise Wissen über den Nationalsozialismus hat? Eine Antwort auf diese Fragen ist alles andere als trivial. Denn es handelt sich hier um nicht mehr und nicht weniger als den Forschungsgegenstand. Wenn aber nicht klar ist, worum es eigentlich geht, gibt es auch keine Ergebnisse. Oder die “Ergebnisse” bedienen einen common sense, der gesellschaftlich legitimierten Erwartungen entspricht, die nicht eigens begründet werden müssen, sondern gleichsam apriorisch in die Untersuchung einfließen.
    Dieses “Wissen”, mithin der Forschungsgegenstand, ist, soweit ich sehe, an keiner Stelle der Studie wissenschaftlich definiert worden. Zu jeder methodisch korrekten Empirie gehört es aber, sich Rechenschaft darüber abzulegen, was die Merkmale des Untersuchungsgegenstandes sind. Diese Merkmale muss man kennen, um damit valide Messinstrumente formulieren zu können. Diese Merkmalsbestimmung ist von der Forschergruppe aber unterlassen worden. Stattdessen haben Schroeder und sein Team Items formuliert, von denen sie “glauben”, damit irgendwie valide “Wissen” abfragen zu können.
    Das lässt sich an der Zielrichtung des Forschungsprojekts zeigen (S. 273): “In unserem Forschungsprojekt geht es am Beispiel des Nationalsozialismus, der DDR sowie der Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung um die Erforschung der Geschichtsbilder und des zeitgeschichtlichen Bewusstseins von Schülern. Mittels verschiedener Methoden wurde erfragt, welche Kenntnisse und Urteile Jugendliche über diese vier Phasen jüngster deutscher Geschichte haben und wie sich ihr Geschichtsbild konstituiert und verändert.” Nach meinem Verständnis von empirischer Forschung müsste nun an irgendeiner Stelle formuliert sein, was die Autoren unter “Geschichtsbild”, “zeitgeschichtlichem Bewusstsein”, “Kenntnis” und “Urteil” zu verstehen ist. Hier wird mit Begriffen operiert, deren inhaltliche Diskussion nicht zur Kenntnis genommen wird, und es wird so getan, als ob vollkommen klar sei, was darunter zu verstehen sei. Das Gegenteil ist der Fall.
    Wer sagt denn zum Beispiel, warum gerade diese und keine anderen Kenntnisse etwas darüber aussagen, ob sich jemand beispielsweise über den Nationalsozialismus auskennt (S. 295). Oder zeugt das richtige Ankreuzen von sechs Fragen (S. 315: “Was waren die Schlagworte der ‘Französischen Revolution’?; Wer war Otto von Bismarck?; Wer war Karl der Große? An welcher Krankheit starben im 14. Jahrhundert mehrere Millionen Menschen?; Wann war der 1. Weltkrieg?; Was wurde mit der Weimarer Republik in Deutschland eingeführt?”), wie in der Studie suggeriert wird, dass jemand “Allgemeinhistorisches Wissen” besitzt? Welches Konstrukt von “Allgemeinhistorischem Wissen” steckt hinter diesen Fragen? Eine Antwort darauf habe ich nicht gefunden. Stattdessen wird ein “Ergebnis” formuliert (ebd.): “Die Fragen zu verschiedenen Abschnitten der weiter zurückliegenden Geschichte beantworten die Schüler – abgesehen vom Nationalsozialismus – besser als die meisten zeitgeschichtlichen. Offensichtlich legen die Schulen stärkeres Gewicht auf die Vermittlung historischer Kenntnisse als auf die von zeitgeschichtlichem Wissen.”

    Wie die Forschergruppe zu solchen Schlussfolgerungen kommen kann, ist mir schleierhaft. Und das ist genau das, was ich kritisiere. Es werden Schlussfolgerungen gezogen aus willkürlichen Konstrukten, die in einen ebenso willkürlichen Kausalzusammenhang gebracht werden. Was soll daran valide sein?

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