Abstract: Der 1998 verstorbene Mediävist Hartmut Boockmann hat 1992 in der GWU einen Topos der Mittelalterdarstellungen in den Schulbüchern dekonstruiert: die Lehnspyramide. Seine Kritik richtete sich gegen die zahlreichen bunten Zeichnungen in den Schulbüchern, welche die mittelalterliche Gesellschaft in einem spitz zulaufendem Dreieck als drei- oder viergliedrige Ständeformation widerzuspiegeln vorgaben: König – Kronvasallen – Untervasallen – Hörige und leibeigene Bauern. In einer überzeugenden Argumentation, die auch immer die Möglichkeiten der schulischen Vermittlung im Blick behielt, hat Boockmann die Herkunft der Lehnspyramide analysiert. Doch auch 20 Jahre später findet sich die Pyramide, nun als Sinnbild der Ständegesellschaft, in den meisten Schulbüchern wieder.
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2164.
Language: Deutsch
Der 1998 verstorbene Mediävist Hartmut Boockmann hat 1992 in der GWU einen Topos der Mittelalterdarstellungen in den Schulbüchern dekonstruiert: die Lehnspyramide. Seine Kritik richtete sich gegen die zahlreichen bunten Zeichnungen in den Schulbüchern, welche die mittelalterliche Gesellschaft in einem spitz zulaufendem Dreieck als drei- oder viergliedrige Ständeformation widerzuspiegeln vorgaben: König – Kronvasallen – Untervasallen – Hörige und leibeigene Bauern. In einer überzeugenden Argumentation, die auch immer die Möglichkeiten der schulischen Vermittlung im Blick behielt, hat Boockmann die Herkunft der Lehnspyramide analysiert. Doch auch 20 Jahre später findet sich die Pyramide, nun als Sinnbild der Ständegesellschaft, in den meisten Schulbüchern wieder.
Die falsch verstandene Lehnspyramide: 1992 …
Die Fehlinterpretation der Lehenspyramide als Abbild einer Gesellschaftsordnung anstatt einer Rechtsbeziehung geht laut Boockmann auf die seit dem späten 18. Jahrhundert geführte Feudalismus-Diskussion zurück, also den Versuch, “die mittelalterliche Sozialordnung insgesamt als feudal zu verstehen”. Er zieht daraus den Schluss, dass die Lehnspyramiden in den Schulbüchern unter Einschluss der Bauern nicht die mittelalterliche Gesellschaft illustrierten, “sondern vielmehr ein Bild von dieser, das seine Wurzeln im ausgehenden 18. Jahrhundert hat und nach heutiger Auffassung ein Mißverständnis ist”.1 Die Schulbücher um das Jahr 1990 verbreiteten mithin ein Geschichtsbild, das aus einer modernen Perspektive eine Gesellschaftsordnung des Mittelalters umfasste, die als primitiv bezeichnet werden konnte.
… und heute in den Geschichtsschulbüchern
Wir machen einen Schnitt, springen von 1992 in die Gegenwart und schlagen ein beliebiges Schulbuch der Sekundarstufe I auf. Immerhin sind seit der vernichtenden Kritik an der Lehnspyramide über 20 Jahre verstrichen; ein Zeitraum, der selbst unter Berücksichtigung der Lücke, die bekanntermaßen Forschungsergebnisse brauchen, um in Schulbücher zu gelangen, ausreichend sein dürfte. Man könnte also annehmen, heute auf andere Illustrationen der mittelalterlichen Gesellschaft zu treffen – Boockmann hatte selbst Vorschläge dazu unterbreitet. Aber – man ahnt es schon: weitgehend Fehlanzeige. Die Lehnspyramiden feiern in etlichen Büchern fröhliche Urständ – nun allerdings als Ständeordnungen.
Der Wiedergänger “Ständeordnung”
Doch es gibt Veränderungen: Lehnswesen und Grundherrschaft sind nun in der Regel als eigene Abschnitte aus der “Ständeordnung” ausgegliedert. Das macht die Sache aber keineswegs besser. Denn die “Ständeordnung” hat sich als Wiedergänger vom ursprünglichen Modell des Lehnszusammenhangs gelöst und führt nun in vielen Büchern ein Eigenleben. Sie verbreitet ein Bild über die mittelalterliche Gesellschaft, das den Eindruck ihrer Statik und Primitivität eher noch erhöht: “Als Mittelalter bezeichnen wir die Zeit zwischen 500 und 1500 nach Christus. In dieser Zeit gehörte jeder Mensch einem Stand an. Es gab drei Stände: Geistliche, Adlige, Bürger und Bauern. Die Kirche lehrte, dass Gott das so wollte.”2 Tausend Jahre Mittelalter werden als bleierne Zeit dargestellt, in der “die Kirche” bestimmte, wer welchen “Stand” in der Gesellschaft einzunehmen habe. Veränderungen und soziale Mobilität, die es in diesem Jahrtausend weiß Gott gab, fallen der “didaktischen Reduktion” zum Opfer.3 Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch eine Bildquelle, die sich seit einigen Jahren in nahezu jedem Schulbuch befindet: Das “Ständebild” des Johannes Lichtenberger von 1488 (meist datiert auf 1492), indem Christus als Richter auf einem Regenbogen den Ständen ihre Funktion zuweist: “Tu supplex ora, tu protege tuque labora”.4 Mit Hilfe dieser Quelle wird das Ideal einer Ordnungsvorstellung rückwirkend auf das gesamte Mittelalter übertragen, die zur Zeit ihrer Entstehung bereits überholt war: die statische Ständegesellschaft, in der niemand über seine Position nachzudenken brauchte – weil ja Gott alles bestimmte.
Was in Quellen thematisiert wird, war nicht selbstverständlich
Überflüssig zu sagen, dass hier eine Konstruktion vorliegt, die schon aus dem Mittelalter selbst stammt. Ordnungsmodelle werden häufig dann thematisiert, wenn die Realität bereits über sie hinweggegangen ist. So auch hier. Und natürlich haben auch mittelalterliche Menschen über die Berechtigung dieser Ständevorstellungen nachgedacht: “Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?” Dieser Ausspruch stammt von John Ball, einem englischen Prediger, der damit während der Bauernrevolte in England im Jahr 1381 die Ständeordnung kritisierte.5
“Ständegesellschaft” als funktionaler Teil der Fortschrittserzählung
Es stellt sich also die Frage, warum viele Schulbücher nach wie vor die Ständeordnung als eine Art zementierten Ist-Zustand der mittelalterlichen Gesellschaft hinstellen, ohne auf deren Zeitgebundenheit oder auf zeitgenössische Kritik hinzuweisen, und die plausible Kritik von Boockmann und anderen nur vereinzelt und mühsam verarbeiten.6 Warum also ist die Lehnspyramide ein Wiedergänger des Geschichtsunterrichts? Ich denke, das hängt mit dem Metanarrativ unserer Lehrpläne und Geschichtsschulbücher zusammen, das wir eigentlich seit den 1970er Jahren überwunden glaubten. Natürlich gibt es heute nicht mehr die nationale Meistererzählung, aber es gibt eine andere “Geschichte”, die den Schülerinnen und Schülern als Metanarrativ präsentiert wird: die Fortschrittserzählung der westlichen Moderne, die etwa mit der Französischen Revolution beginnt und dann vom unaufhaltsamen Aufstieg der westlichen Werte berichtet: Menschenrechte, Demokratie, Emanzipation, Pluralismus, Innovation, Fortschritt. Demgegenüber können die älteren Epochen nur alt aussehen – und das tun sie auch.
Weg mit überkommenen Mittelalterbildern!
Wer die heutigen Schulbücher durchblättert, wird das Mittelalter im Wesentlichen als Beschreibung und nicht als Erzählung finden: Leben im Kloster, Leben in der Stadt, Leben auf der Burg, Leben auf dem Lande; das Lehnswesen, die Grundherrschaft, die Herrschaft des Königs, das Verhältnis von Kaiser und Papst und vieles mehr. “Bilder aus der Vergangenheit” werden hier als stillgestellte Zeit präsentiert. Sie dienen als dunkle Folie, vor der die Moderne noch glänzender erscheint, weil sie die Menschen aus diesem engen, vorbestimmten Leben herausgeführt und ihnen eine Zukunft gegeben hat, mit der sie im Grunde selbst erst zum handelnden Individuum geworden sind. Wäre es nicht an der Zeit, dieses Narrativ über Bord zu werfen und den älteren Epochen ihre Geschichte wiederzugeben?
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Literaturhinweise
- Boockmann, Hartmut: Über einen Topos in den Mittelalter-Darstellungen der Schulbücher: Die Lehnspyramide. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992), S. 361-372.
- Hasberg, Wolfgang: Glasperlenspiele um das Mittelalter? oder: Zum Verhältnis von Geschichtsforschung und Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11 (2012), S. 181-207.
- Koselleck, Reinhart: “Neuzeit”. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe (1977). In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Begriffe. Frankfurt/M. 1989, S. 300-348.
Webressourcen
- Bader, Matthias: Lehenswesen in Altbayern. In: Historisches Lexikon Bayerns. http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_45128 [zuletzt am 2.06.2014]
- Der Heidelberger Sachsenspiegel. In: Bibliotheca Palatina – digital. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/de/bpd/glanzlichter/sachsenspiegel.html [zuletzt am 2.06.2014]
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Abbildungsnachweis
Die mittelalterliche Ständeordnung in der “Pronostacio” des Astrologen Johannes Lichtenberger, 1488. Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ständemodell_Lichtenberger.jpg (abgerufen am 6.6.2014).
Empfohlene Zitierweise
Bernhardt, Markus: Die Lehnspyramide – ein Wiedergänger des Geschichtsunterrichts. In: Public History Weekly 2 (2014) 23, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2164.
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- Boockmann, Hartmut: Über einen Topos in den Mittelalter-Darstellungen der Schulbücher: Die Lehnspyramide. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992), S. 361-372, hier S. 365f. ↩
- Drerichs, Johannes u.a.: Durchblick. Geschichte/Erdkunde 5/6. Hauptschule Niedersachsen, Braunschweig 2005, S. 106; ähnlich: Christoffer, Sven u.a. (Hrsg.): Zeitreise 1, Stuttgart 2008, S. 120. ↩
- Das Bemühen, den Konstruktionscharakter und den Wandel der “Ständeordnung” zu zeigen, gibt es auch: z. B. Eckhardt, Hans-Wilhelm u.a. (Hrsg.): Zeit für Geschichte. Band 7. Gymnasium Niedersachsen, Braunschweig 2009, S. 31.; Lendzian, Hans-Jürgen (Hrsg.): Zeiten und Menschen 1, Braunschweig 2008, S. 230-232. ↩
- Bildnachweis bei Buck, Thomas Martin: Mittelalter und Moderne. Plädoyer für eine qualitative Erneuerung des Mittelalter-Unterrichts an der Schule, Schwalbach/Ts. 2008, S. 220 f. ↩
- In einem von mir herangezogenen Buch wird diese zeitgenössische Kritik aufgenommen und produktiv verarbeitet: Regenhaut, Hans-Otto (Hrsg.): Forum Geschichte 5/6. Niedersachsen. Von der Vorgeschichte bis zum frühen Mittelalter, Berlin 2008, S. 234. ↩
- Vgl. Hasberg, Wolfgang: Historisches Lernen am “nächsten Fremden”. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 34 (2006), S. 218-231. ↩
Categories: 2 (2014) 23
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2164
Tags: Concepts of History (Geschichtsbild), Middle Ages (Mittelalter), Textbook (Schulbuch)
Der Horror der Vergangenheit immunisiert gegen kritische Fragen über die Gegenwart.
Die Darstellung der Lehnspyramide des Mittelalters ist in der Tat der sich visuell sehr symbolisch steil zuspitzende Gipfelpunkt des Ärgernisses angesichts der ohnehin sehr problematischen Mittelalter-Rezeption im Schulunterricht. Zu Recht erinnert Markus Bernhardt an die Kritik Hartmut Boockmanns aus dem Jahre 1992, in der der Kieler Historiker nachwies, dass es sich um eine willkürliche Verfälschung einer Quelle handelt, wobei Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert auf die Zeit davor rückprojiziert werden, um, so fasst Bernhardt zusammen, das “Metanarrativ der Fortschrittserzählung der westlichen Moderne” weiter zu kultivieren.
Die Kritik Boockmanns wurde, darauf vergisst Bernhardt hinzuweisen, 1999 noch einmal nachgedruckt; 20 Jahre nach Boockmann habe ich zu der Situation Stellung genommen. Bereits im ersten Jahr des Geschichtsunterrichtes, das scheint mir wichtig zum Verständnis des Phänomenes, wird die altägypische Pyramide quasi als Modell aller Gesellschaftsordnung eingeführt und symbolisch aufgeladen; das Bild zieht sich von da als Universalie durch die Schulbücher. Es prägt sich quasi archetypisch bei Kindern ein, dass Gesellschaft in der Vergangenheit immer schon ein streng hierarchisch geordneter Horror war, der breite Teile der Bevölkerung ausschloss. Die Kritik Boockmannns, so zeige ich, wirkte dabei geradezu enthemmend, sodass man sich seither völlig beliebig mit bildlichen Darstellungen eigener Phantasien über vergangene Kulturen austobt.
Die Darstellung der Pyramide eignet sich besonders, unverarbeitete Gegenwartsprobleme der globalen Gesellschaft abzureagieren: zwischen Himmel und Boden eine stabile Ordnung zu haben, an deren Spitze ein kriegerischer Mann steht, gleich darunter Kleriker, die die kollektive Moral des eigenen Glaubens verwalten – das ist sowohl ein liebgewonnenes Feindbild als auch eine abgewehrte Sehnsucht, die zwar verbal unsagbar ist, aber sehr wohl visuell beschworen werden kann. Soziale Ungleichheit und der Ausschluss ganzer Gruppen wie HandwerkerInnen und Kaufleute, Frauen und Kinder, aber auch Gelehrte und KetzerInnen, Jüdinnen und Muslime von der Herrschaftsordnung, werden der Vergangenheit angelastet. Kritische Fragen nach der gerechten Weltordnung zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden der Gegenwart werden damit neutralisiert. Wenn wir nicht die Kompetenz vermitteln, Menschen in der Vergangenheit in ihrer Vielfalt als handelnde Subjekte zu verstehen, die ihre Umwelt meistern und ihrem Leben Sinn verleihen, werden wir die Herausforderung des Umgangs mit den Alteritäten dieser Erde nicht bewältigen.
Literatur
Herren und Vasallen? Zur aktuellen Debatte über das Lehnswesen in der Mediävistik
Markus Bernhardt hat auf eines der zentralen Ärgernisse für diejenigen hingewiesen, die sich mit der Kultur und Gesellschaft des Mittelalters befassen: die visuell so einprägsame Lehnspyramide, die eine höchst dynamische soziale Welt gleichsam ‚einfriert‘. Das Bild einer Hierarchie, an deren Spitze der Kaiser/König steht und die dann geistliche und weltliche Reichsfürsten, niederen Adel, schließlich Kaufleute und Bauern erfasst, suggeriert eine Ordnung, die politische, religiöse, ökonomische und soziale Funktionen in ein statisches System eingliedert. Sofern Lehnswesen und Ständeordnung miteinander verknüpft erscheinen, wird dieses Bild zusätzlich problematisch, denn es wird unterstellt, dass die vormoderne Ständegesellschaft im Wesentlichen von Lehnsbeziehungen geprägt gewesen sei.
Bernhardts Beobachtungen lassen sich ergänzen, blickt man auf die aktuelle Forschungsdebatte über das Lehnswesen. Für die internationale Diskussion zum Mittelalter ist eine Unterscheidung zentral, die im Deutschen zu machen ist durch die Differenzierung der Begriffe ‚Feudalismus‘ und ‚Lehnswesen‘. Feudalismus meint die Charakterisierung der Gesamtgesellschaft, die stark agrarisch orientiert ist und zugleich scheinbar ‚natürliche‘ Unterschiede zwischen Personen unterschiedlichen Stands unterstellt, etwa im Sinne des Feudalismus von Karl Marx oder der Société feodale, wie Marc Bloch sie dargestellt hat. ‚Lehnswesen‘ bezeichnet hingegen die Vorstellung, asymmetrische soziale Beziehungen zwischen Adeligen oder Freien seien in der Regel lehnrechtlich definiert worden – als unaufkündbares Treueverhältnis von Herr und Vasall, das durch die Gegenseitigkeit von Schutz, Beistand und Rat geprägt gewesen sei und zugleich in der Leihe von Land eine materielle Dimension besessen habe.
Das Lehnswesen gehörte lange zu den Kernvorstellungen der mediävistischen Forschung. Sie unterstellte, es habe sich in der Karolingerzeit über Europa ausgebreitet, habe mit dem Niedergang der Herrscherdynastie zu einer Feudalisierung der öffentlichen Gewalt beigetragen und sei schließlich von Friedrich Barbarossa zu einer systematischen Reichsreform auf lehnrechtlicher Grundlage genutzt worden. Spektakuläre politische Prozesse wie die Absetzungen des bayerischen Herzogs Tassilo durch Karl den Großen oder des sächsischen Herzogs Heinrich des Löwen belegten die Indienstnahme lehnrechtlicher Normen für die Durchsetzung monarchischer Herrschaft. Seit den 1990er Jahren ist das Bild von einer lehnrechtlichen Prägung mittelalterlicher politischer und sozialer Strukturen systematisch in Frage gestellt worden. Bahnbrechend war die Monographie Susan Reynolds, die das Lehnswesen als Imagination frühneuzeitlicher Juristen rekonstruiert hat. Breit angelegte Tagungen haben mittlerweile auch in Deutschland zu einer Revision des Bilds vom Lehnswesen geführt. Vasallen und an Dienste geknüpfte Vergabe von Land und Rechten sind zwar bereits seit der Karolingerzeit belegt. Und seit dem Hochmittelalter lässt sich – ausgehend von Italien – die Verbindung von persönlicher Abhängigkeit und geteilten Rechten an Grund und Boden als Lehnsbeziehung nachweisen. Aber erstens war beides nicht zwangsläufig miteinander verbunden, und zweites stellte das Lehnrecht immer nur eine von verschiedenen Varianten dar, asymmetrische soziale Beziehungen zu definieren. Ein von Steffen Patzold vorgelegter Überblick über das Lehnswesen stellt folgerichtig das klassische Bild der jüngeren Kritik gegenüber und leistet so eine gute Handreichung, sich der Herausforderung zu stellen, ältere Klischees des Geschichtsunterrichts zu überwinden und sich der Vielfalt und Dynamik vormoderner Gesellschaften und Kulturen zu stellen, statt die Vormoderne zu einer Projektionsfläche moderner Distinktionsbemühungen oder Ordnungs- und Stabilitätsfantasien zu degradieren.
Literatur
Replik
Ich danke Bea Lundt und Christoph Dartmann für Ihre hilfreichen Ergänzungen meines Initialbeitrags. Im Grunde kann man sich nach der Lektüre der beiden Kommentare nur noch mehr wundern, warum das System “Schulbuch” eine Existenz führt, die gleichsam von geschichtsdidaktischen und geschichtswissenschaftlichen Erwägungen fast schon unberührt bleibt. Bea Lundt weist auf ihren Beitrag hin, den ich tatsächlich bis dato nicht kannte, aber nach ihrer Ermahnung mit großem Gewinn gelesen habe. Vielleicht zeigt sich hier, dass die Sammelbandproblematik auch für die Geschichtsdidaktik existiert. Bea Lundt macht die Problematik der Pyramide als gesellschaftlicher “Archetyp” viel deutlicher als ich, indem sie argumentiert, dass diese für das historische Lernen geradezu hinderlich ist. Ich finde das sehr plausibel.
Christoph Dartmann ist für seine Ergänzungen zur aktuellen Forschungsdebatte zu danken. Seine Ausführungen zu Susan Reynolds und zu der folgenden Auseinandersetzung um das “Bild” vom Lehnswesen zeigen sehr deutlich, dass das Mittelalter auch und gerade im Geschichtsunterricht dynamischer und vielfältiger darzustellen ist, als es bis heute geschieht. Gegenwärtige Vorstellungen vom Mittelalter sind durch die Überlieferung und Rezeption vielfach gebrochen, so auch hier.
Angesichts der Dauerhaftigkeit dieser “misconceptions” habe ich jedoch große Zweifel, ob es gelingt, ein beweglicheres Bild der Vormoderne in den Schulbüchern zu installieren. Es gibt ja nicht nur Stillstand im Mittelalter, sondern auch Bewegung und Wandel. Zum einen betrifft das die technische Entwicklung in der Landwirtschaft und zum anderen die soziale und politische in den Städten. Was man hier dem Mittelalter zugesteht, ist aber wohl auch wieder nur eine Projektion, indem suggeriert wird, dass Europa auch die Keimzelle des technischen Fortschritts und Demokratie war – eigentlich schade!