Musealisierte Zeitzeugen. Ein Dilemma

Abstract:
Once the aura of three-dimensional objects attracted strollers to museums and exhibitions. But it is precisely in the field of contemporary history that the temples of the muses are changing from places of aesthetic experience to mediatized narrative spaces in which the museum tourist makes his way through the jungle of audio stations and video projections. Snippets of contemporary witnesses create the illusion of polyphonic memory(s). Not infrequently, however, they make critical distancing more difficult and re-stage the “boundaries of the sayable”.
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1817
Language: Deutsch


Einst lockte die Aura dreidimensionaler Objekte Flaneure in Museen und Ausstellungen. Doch gerade im Feld der Zeitgeschichte wandeln sich die Musentempel von Orten der ästhetischen Erfahrung zu mediatisierten Erzählräumen, in denen sich der Museumstourist durch den Dschungel aus Hörstationen und Videoprojektionen schlägt. Zeitzeugenschnipsel wecken die Illusion vielstimmiger Erinnerung(en). Nicht selten erschweren sie jedoch kritische Distanzierung und reinszenieren die “Grenzen des Sagbaren”.

Talking Heads – eine (un)heimliche Konjunktur

Das Bonmot vom Zeitzeugen als Feind des Historikers ist bekannt. Seine beständige Wiederholung kann man als Ritual der Abgrenzung begreifen, als wechselseitigen Ritterschlag interpretieren oder als Hiatus zwischen Erfahrungs- und Strukturgeschichte diskutieren. Zu den neueren geschichtskulturellen Praktiken gehört es jedoch, den Zeitzeugen als Leitfigur öffentlicher Erinnerung zu adeln – mit Zeitzeugenfernsehen, mit Zeitzeugenbörsen, mit Internetportalen wie dem der ZDF-Zeitgeschichtsredaktion entwachsenen “Gedächtnis der Nation” und zunehmend als talking head, der auf Monitoren in zeithistorischen Ausstellungen und Gedenkstätten per Knopfdruck Zeugnis ablegt. Die Sammlungsleiterin und Ausstellungskuratorin des Deutschen Historischen Museums, Rosmarie Beier-de Haan, spricht angesichts dieser Entwicklungen gar von einer “erdrutschartigen Verschiebung” des “Verhältnisses von Geschichtswissenschaft und Geschichtsdarstellung zum Einzelnen”, von einer “neue(n) Geschichtskultur”.1

Von individueller Erinnerung zu standardisierter Inszenierung

Fragen der Sammlung, Bewahrung und Vermittlung von Zeitzeugenerinnerungen im Spannungsfeld von individueller Erinnerung, geschichtskultureller Tradierung und geschichtswissenschaftlicher Analyse wurden bereits vielfach im Kontext der Erinnerung an den Holocaust diskutiert. Doch auch in jüngeren Feldern der Zeitgeschichte hat die museale Inszenierung von talking heads Konjunktur. Ein Blick in die Berliner Ausstellungs- und Gedenkstättenlandschaft zur DDR-Geschichte und deutschen Teilung lässt dies bereits erahnen. Die “Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde” nahm hier eine Vorreiterrolle ein, indem sie Audio- und Videomaterial biografischer Interviews frühzeitig in die ständige Ausstellung integrierte. Jüngere Ausstellungen folgen diesem Trend: 2011 die im “Tränenpalast” eröffnete Ausstellung “GrenzErfahrungen. Alltag der deutschen Teilung” und im Oktober 2013 die multimediale Dauerausstellung “Gefangen in Hohenschönhausen. Zeugnisse politischer Verfolgung 1945-1989”. In Hohenschönhausen erinnern Ein- und Ausgangsszenario der Ausstellung an das Washingtoner Holocaust-Museum und seinen “Tower of faces”. Auf dieses bereits kulturübergreifend vertraute ästhetisch-inszenatorische Muster der Opfererinnerung stößt man auch andernorts – in der Gedenkstätte Berliner Mauer oder im “Ort der Informationen” am Holocaust-Denkmal.

Vielstimmiges Gedächtnis – eine museale Chimäre

Die Musealisierung von Zeitzeugenerinnerungen kann ganz postmodern als Abschied von der Meistererzählung gefeiert werden. Talking heads repräsentieren die Subjektivität historischer Erfahrungen und die Pluralität der Erinnerungen. Erinnerungsschnipsel versprechen Multiperspektivität und öffnen Raum für kontroverse Deutungen und Orientierungen.2 Unübersehbar sind jedoch Dilemmata dieses Musealisierungsprozesses.
Erstens scheinen vermeintlich authentische und erfahrungsgesättigte Erinnerungen in der Geschichtskultur der Gegenwart mehr Anerkennung zu erfahren als historisierende oder abstrakte strukturgeschichtliche Zugriffe. Letztlich braucht es aber diese zwei Seiten der Medaille, um biografische Erzählungen historisch zu rekontextualisieren und Handlungsspielräume zu diskutieren, und damit die Ebene emotionaler Betroffenheit zu verlassen und kritische Identitätsreflexion zu ermöglichen.
Zweitens profilierten sich Zeitzeugenerinnerungen zunächst als Gegenerzählungen gegen kollektives Verdrängen und Vergessen. In unserer opferzentrierten Erinnerungskultur erleben wir jedoch gegenwärtig die Transformation vielschichtiger Gegenerzählungen zu einer Meistererzählung, die im musealen Kontext vom Schweigen der Täter, Zuschauer oder der “Anderen” profitiert. Was bleibt sind kritische Distanz zur Vergangenheit und moralische Selbstvergewisserung, weniger historisches Verstehen und die Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Biographien und ihren Brüchen.
Drittens sind Medialisierung und Musealisierung als aufeinander bezogene Prozesse der kulturellen Kodierung und Sinnstiftung zu begreifen – von der Auswahl der Zeitzeugen, über den auf typologisierende Zugriffe und exemplarische Einsichten zielenden Schnitt der Interviews bis hin zur musealen Präsentation. Musealisierte Zeitzeugenerzählungen entkontextualisieren so biografische Erinnerungen, werten Erinnerungsschnipsel symbolisch auf, bewerben sie als authentische Geschicht(en) und inszenieren talking heads als zeitlose moralische Instanzen – nicht immer, aber immer öfter.

Selbstvergewisserung  oder destruktive Erinnerungen

Nichts Neues?! Mit den skizzierten Dilemmata der Musealisierung von Zeitzeugenerinnerungen kehrt ein vielfach diskutiertes Problem historischer Orientierung wieder, das nicht nur Volkhard Knigge3 oder Harald Welzer4 für den Bereich der Gedenkstätten als Diskrepanz zwischen historischem Lernen und ritualisiertem Gedenken kritisieren. Somit bleibt die Sammlung, Archivierung und Repräsentation von widersprüchlichen und destruktiven Erinnerungen eine museale und auch museums- und gedenkstättenpädagogische Herausforderung – gerade wenn man zeithistorische Ausstellungen und Museen als diskursive Orte, als Orte der Verunsicherung begreift und nicht als Tempel der Selbstvergewisserung nutzt, in denen talking heads unsere Wahrnehmungen und Deutungen musealer Objekte lenken und durch ihre “Ordnung der Dinge” die “Grenzen des Sagbaren” präformieren.

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Literaturhinweise

  • Sabrow, Martin / Frei, Norbert (Hrsg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012.
  • Fritz-Bauer-Institut u.a. (Hrsg.): Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, Frankfurt/M. / New York 2007.
  • Beier-de Haan, Rosmarie: Erinnerte Geschichte – Inszenierte Geschichte. Ausstellungen und Museen in der Zweiten Moderne, Frankfurt/M. 2005.

Webressourcen

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Abbildungsnachweis

Objektensemble der Ausstellung “GrenzErfahrungen. Alltag der deutschen Teilung” im Tränenpalast Berlin-Friedrichstraße. © Saskia Handro 2014.

Empfohlene Zitierweise

Handro, Saskia: Musealisierte Zeitzeugen. Ein Dilemma. In: Public History Weekly 2 (2014) 14, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1817.

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  1. Beier-de Haan, Rosmarie: Geschichte, Erinnerung, Repräsentation. Zur Funktion von Zeitzeugen in zeithistorischen Ausstellungen im Kontext einer neuen Geschichtskultur, S. 2. http://www.bkge.de/download/Beier-de_Haan_Geschichte_Erinnerung_Repraesentation.pdf (aufgerufen am 14.04.2014).
  2. Vgl. dazu modellwürdiges Beispiel zur Musealisierung transnationaler Erinnerungen im Rahmen des Projektes “Lebenswege ins Ungewisse” des Schlesischen Museums zu Görlitz. Pietzsch, Martina: Görlitz-Zgozelec als Brennpunkt der Migrationsgeschichte von acht Jahrzehnten. http://www.museumsbund.de/fileadmin/fg_gesch/Votraege_u_Publikationen/2012_Beitrag_Pietsch_fu__776_r_Homepage_DMB.pdf (aufgerufen am 14.04.2014).
  3. Vgl. Knigge, Volkhard : Zukunft der Erinnerung. Abzurufen unter: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39870/zukunft-der-erinnerung?p=all (aufgerufen am 14.04.2014).
  4. Vgl. Giesecke, Dana / Welzer, Harald: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012.

Categories: 2 (2014) 14
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1817

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  1. Der Zeitzeuge – drei Zugriffsperspektiven

    Kritische Reflexion verlangen alle Leitfiguren der Vergangenheitsverständigung, gleichviel ob sie in ihrer jeweiligen Geltungszeit als beispielgebendes Heldenepos in Erscheinung treten oder als strukturgeschichtliches Balkendiagramm oder eben als anrührende Zeitzeugenschilderung. Der Zeitzeuge mag in der öffentlichen Konkurrenz um die angemessene Deutung der Vergangenheit hier als Verbündeter und dort als Gegner der Geschichtswissenschaft auftreten; vor allem aber ist er ihr Gegenstand. Nicht gegen die Chimäre eines vielstimmigen Gedächtnisses gilt es zu kämpfen, sondern um seine distanzierende Beobachtung und analytische Erschließung, wie sie der Beitrag von Saskia Handro in Angriff nimmt. Ihr Beitrag regt mich dazu an, drei unterschiedliche Zugriffsperspektiven vorzuschlagen.

    Im Vordergrund steht im allgemeinen die Entzauberung des Zeitzeugen, also die quellenkritische Brechung seiner suggestiven Unmittelbarkeit und beanspruchten Authentizität. Anders als der vor seinem Auftauchen als Historisierungsbegleiter gefragte Augen- und Tatzeuge bewegt der Zeitzeuge sich gern im ungefähren Halbschatten eine passiven Präsenz, die ihn von einem Geschehen künden lässt, das er unmittelbar miterlebt, aber in der Regel nicht aktiv mitgestaltet hat und in dem er oft keinen deutlich lokalisierten Platz einnimmt. Eben dies setzte ihn am Beginn seiner Karriere und etwa im Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961 noch teils heftiger Ablehnung aus. Skeptische Nachfrage verdient zugleich die narrativ versicherte und körperlich beglaubigte Unmittelbarkeit des Erlebten, für die der Zeitzeuge steht. Im Wissen, dass Authentizität immer auf Zuschreibung beruht, geraten hier die kulturellen Konventionen und biographischen Deutungsmuster in den Blick, die im Spannungsverhältnis von Bewahren, Anpassen und Vergessen aus dem erfahrenen Geschehen die erzählte Erinnerung machen.

    Auf einer zweiten Ebene ist die vergangenheitsaufschließende Leistungskraft des Zeitzeugen zu diskutieren. Welchen Orientierungsmustern folgt eine Geschichtsschreibung, die sich auf den Zeitzeugen als Leitfigur stützt; was zieht sie in den Fokus, und was drängt sie an den Rand der historischen Erzählung? Wie Saskia Handro zu Recht argumentiert, hat der Zeitzeuge seine einstige Rolle als Träger einer herrschaftskritischen Gegenerzählung „von unten“ längst gegen seine illustrative Beglaubigungsfunktion eingetauscht und dient heute als universell einsatzbarer „Erinnerungsschnipsel“ mehr zur unterfütternder Beglaubigung denn zur kritischen Infragestellung von museal oder medial präsentierten Geschichtsdeutungen. Welche Anschauungen der historischen Welt er aber ermöglicht und bekräftigt, ist damit noch nicht gesagt und bedarf näherer Erhellung. Vorläufig lässt sich sagen: Der Zeitzeuge unterstützt akteurszentrierte und subjektive Zugänge zur Vergangenheit, und er steht in Distanz zu strukturgeschichtlichen Erklärungsmodi zumal von überlebenszeitlicher Reichweite, und er akzentuiert mehr die Kosten als den Gewinn des historischen Fortschritts. Nicht zuletzt privilegiert er die Zeitgeschichte gegenüber anderen Vergangenheitsepochen, für die gleichermaßen „an-sprechende“ Zeugnisse nicht mehr zu gewinnen sind. Gerade zum 100. Jubiläum des Weltkriegsausbruchs von 1914 ließe sich in diesem Zusammenhang an die verzweifelte Suche nach letzten Zeitzeugen des Großen Krieges zehn Jahre zuvor erinnern, die noch zur medialen Aufbereitung des 90. Jahrestag des Kriegsausbruchs 2004 beitragen könnten.

    Das führt zu der dritten Analyseebene, auf der es um die paradigmatische Bedeutung des Zeitzeugen geht. Welches kulturelle Bedürfnis der Gegenwart befriedigt der Zeitzeuge, für welche epochale Form der Verständigung über die Vergangenheit ist er sinngebend? Es ist dies eine Frage, die sich zureichend sicherlich erst im Rückblick beantworten lässt. Deutlich aber scheint doch, dass in der Figur des Zeitzeugen eine Vorstellung der Vergangenheit zum Ausdruck kommt, die stärker auf Zäsuren als auf Kontinuität angelegt ist, stärker auf Umbrüche und Einschnitte als auf Geschlossenheit und historische Wertegewissheit zielt. Zeitzeugen beglaubigen weniger die Gleichförmigkeit des ruhigen Geschichtsflusses als vielmehr den Einbruch des Unerwarteten; sie verkörpern eher die Kluft zwischen Gestern und Heute als deren Übereinstimmung, und sie werden interessant, sofern sie von einer uns gänzlich fremd gewordenen Welt zeugen können und zugleich als unserer eigenen Welt zugehörig erfahrbar sind – eben dies verschafft dem noch so aussagearmen Zeitzeugen von heute einen nicht einholbaren Aufmerksamkeitsvorsprung vor dem nur noch als Ton- und Bildkonserve verfügbaren Zeitzeugen von gestern.

    Wie immer die Analyse im einzelnen ausfallen mag, sollte doch im Ganzen gelten: Der Zeitzeuge ist nicht der geschworene Feind des Historikers, wohl aber einer seiner höchst interessanten Untersuchungsphänomene.

  2. Einige Überlegungen zum Potential von Zeitzeugenvideos für zeithistorische Ausstellungen

    Saskia Handro kritisiert in ihrem Beitrag, dass Zeitzeugenvideos in Museen und Gedenkstätten die „Illusion vielstimmiger Erinnerungen“ inszenieren, jedoch eine kritische Distanzierung erschweren. Vor diesem Hintergrund möchte ich – ausgehend von meinen eigenen Forschungen (vgl. de Jong 2010, 2013) – einige Überlegungen darüber anstellen, wie Zeitzeugenvideos zu einer differenzierteren Geschichtsdarstellung in Museen beitragen können.

    Unangenehme Erinnerungen zulassen
    Vielstimmigkeit ist häufig das erklärte Ziel von Ausstellungsmachern. Oft bleibt sie aber hinter ethischen und didaktischen Belangen zurück. So bemühen sich zum Beispiel Gedenkstätten und Holocaustmuseen, möglichst viele Opfer aus möglichst vielen verschiedenen sozialen Schichten und möglichst vielen kulturellen Erfahrungsräumen mit möglichst unterschiedlichen Erinnerungen zu Wort kommen zu lassen.
    Es fällt aber auf, dass einige Opfergruppen selten bis gar nicht auftauchen. Obwohl zum Beispiel orthodoxe Juden die größte Opfergruppe darstellten, sind Zeitzeugenvideos mit ihnen kaum in Holocaustmuseen zu finden. Auch Geschichten über moralisch fragwürdige Entscheidungen von Opfern sind selten – und wenn, dann werden sie fast immer aus der Perspektive des unbeteiligten Beobachters erzählt.
    Es sind die potentiell unangenehmen Stimmen, die aus den Ausstellungen ausgeklammert werden; Stimmen, die nicht in das Narrativ des Museums passen oder die Grenzen von Moral und Unmoral, Täter und Opfer verschwimmen lassen könnten. Orthodoxe Juden sehen den Holocaust als Hurbn, als einen von mehreren Versuchen, das jüdische Volk zu vernichten. Eine solche Interpretation bricht mit der allgemein akzeptierten Interpretation des Holocaust als „Zivilisationsbruch“ (vgl. Diner 1988). Geschichten von Verrat, gestohlenem Essen und ähnlichem ließen die Opfer nicht mehr nur als passiv, sondern auch als aktiv – und gelegentlich unmoralisch – Handelnde erscheinen. Auch diese Geschichten Teil der Ausstellungen zu machen, würde aber bedeuten alternative Interpretationsansätze aufzuzeigen und die Grauzone (vgl. Levi 1988) zwischen „gut“ und „böse“ sichtbar zu machen.

    Die Täter berücksichtigen
    Saskia Handro beobachtet deshalb zu Recht, dass mit den Zeitzeugenvideos in Museen „Grenzen des Sagbaren“ reinszeniert werden. Das gilt besonders für die Darstellung der Täter. Der Großteil der ausgestellten Zeitzeugen gehört der Gruppe der Opfer an. Nur gelegentlich kommen sogenannte „bystander“ zu Wort. Bei letzteren handelt es sich meisten um Anwohner von Konzentrationslagern, die zur Zeit des Nationalsozialismus Kinder oder Jugendliche waren – und deren Taten oder Tatenlosigkeit sich bereits aufgrund ihres jungen Alters entschuldigen ließen. Zeitzeugenvideos mit Tätern sind nie zu finden.
    Täter erscheinen in den Ausstellungen bislang vor allem auf historischen Fotografien – und somit als unserer Zeit entrückt. Die Täter zu Wort kommen zu lassen, würde bedeuten, Rechtfertigungen zuzulassen, sowie sie in die Nähe der Besucher zu rücken. Genau so wie die Opfer, würden sie als Menschen erscheinen, mit denen der Besucher in Beziehung treten kann. Dass dies nicht unbedingt zu einer Entschuldigung der Taten führen muss, hat kürzlich Joshua Oppenheimer’s Dokumentarfilm The Act of Killing eindrücklich gezeigt. Das Verstörende an dem Film ist gerade die „Menschlichkeit“ der Täter, zu denen der Zuschauer eine Beziehung aufbaut – eine Beziehung, die sich konstant an deren Schilderungen der Grausamkeit ihrer Taten bricht.

    Das Interview als Erinnerungsprozess sichtbar machen
    Die Zeitzeugen erscheinen in den Videos in Gedenkstätten und Museen bislang zudem, wie Saskia Handro beobachtet, als „talking heads“. Der Kamerafokus ist auf das Gesicht gerichtet, das vor einem meist einfarbigen, dunklen Hintergrund so ausgeleuchtet ist, dass alle Gefühlsregungen als Ausdruck einer übersprachlichen Zeugenschaft besonders gut sichtbar sind. Oft werden nur sekundenlange Auszüge gezeigt. So wird eine zeit- und ortlose Gültigkeit der Erinnerung inszeniert. Die Zeitzeugenvideos erscheinen nie als das, was sie eigentlich sind: filmische Darstellungen des Prozesses des Erinnerns, der an einem bestimmten Zeitpunkt unter Anwendung einer spezifischen Form der Konversation und einer spezifischen Forschungsmethode, nämlich des narrativen Interviews, zustande gekommen ist.

    Das reflektierte Museum macht mittlerweile einen Teil seiner Arbeit sichtbar: mit Hilfe von Schaudepots, ins Museum integrierten Restaurationswerkstätten oder Ausstellungen übers Ausstellen. Bei Zeitzeugenvideos reicht die Aufdeckung des Produktionsprozesses zumeist jedoch nicht über die Angaben des Aufnahmedatums, der Gesamtlänge des Interviews sowie des Interviewortes hinaus. Dabei würde gerade das Medium Video viel mehr zulassen. Denkbar wäre, verschiedene Kameraeinstellungen zu benutzen und zum Beispiel auch den Interviewer mit ins Bild zu nehmen. Denkbar wäre auch Interviews nebeneinander zu stellen, die zu verschiedenen Zeitpunkten gemacht wurden. Damit würde einer falschen Authentifizierung und Auratisierung der Zeitzeugen als Erinnerungsträger entgegengewirkt. Als Fernsehzuschauer sind es Museumsbesucher durchaus gewohnt, auch Aussagen von Interviewern sowie das Setting in ihre Gesamtbewertung des Interviews mit einzubeziehen. Dies könnten Museen bei den Zeitzeugenvideos nutzen, um Besucher auf den Konstruktioncharakter des Erinnerungsinterviews aufmerksam zu machen.

    Wenn Gedenkstätten nicht nur Orte des ritualisierten Gedenkens sind, sondern auch Orte des historischen Lernens, so muss dieses Lernen letztendlich auch darauf hinauslaufen, nicht nur die Grenzen zwischen Gut und Böse, Tätern und Opfer nachzuzeichnen, sondern auch die Komplexität des menschlichen Handelns, sowie der menschlichen Erinnerung zu beleuchten. Zeitzeugenvideos können hier eine besonders fruchtbare Vermittlungsform darstellen, da sie es erlauben nicht nur das gesamte Spektrum des „Menschen Möglichen“ (vgl. Welzer 2012) darzustellen, sondern auch die Erinnerung daran. Museen sollten hier vielleicht mehr Vertrauen in die Interpretationsgabe ihrer Besucher haben.

    Literatur:
    de Jong, Steffi. “Bewegte Objekte. Zur Musealisierung des Zeitzeugen”. In: Sibylle Schmidt / Sibylle Krämer / Ramon Voges (Hrsg.): Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis. Bielefeld 2010, S. 243-264.
    de Jong, Steffi. “Im Spiegel der Geschichten. Objekte und Zeitzeugenvideos in Museen des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges”. WerkstattGeschichte 62 (2013), S. 18-40.
    Diner, Dan, ed. Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt a. M. 1988.
    Levi, Primo: The drowned and the saved. New York et al. 1988.
    Welzer, Harald / Giesecke, Dana: Das Menschen Mögliche. Zur Renovierung der Deutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2012.

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