Abstract: Geplant für ein paar hundert Twitter-Follower, wurde „Heute vor 75 Jahren – @9Nov38“ zu einem Massenereignis mit über 11.000 Abonnenten und 36.000 Homepageabrufen. Die vielfach geschilderte Wirkung erhielt es aus zwei für das Medium spezifischen Eigenheiten: Der niedrigen Partizipationshürde und der Zeit als eigener inhaltlicher Dimension. Diese machen Twitter zu einem beachtenswerten Kanal der öffentlichen Geschichtsvermittlung.
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-779.
Languages: Deutsch
Geplant für ein paar hundert Twitter-Follower, wurde „Heute vor 75 Jahren – @9Nov38“ zu einem Massenereignis mit über 11.000 Abonnenten und 36.000 Homepageabrufen. Die vielfach geschilderte Wirkung erhielt es aus zwei für das Medium spezifischen Eigenheiten: Der niedrigen Partizipationshürde und der Zeit als eigener inhaltlicher Dimension. Diese machen Twitter zu einem beachtenswerten Kanal der öffentlichen Geschichtsvermittlung.
Ein Netzereignis
Die Nachzeichnung der Umstände und Ereignisse der Pogrome im November 1938 auf Twitter ist innerhalb weniger Tage und ohne professionelle Werbung zu einem wirklichen Netzereignis geworden. Über 11.000 Menschen äußerten innerhalb von zwei Wochen mit einem Klick auf ‚Folgen‘ Interesse an diesem zeithistorischen Phänomen und besuchten die dazugehörige Homepage mit kontextualisierenden Zusatztexten und Abschriften von Quellen über 36.000 Mal. Nach der regionalen und überregionalen Presse Deutschlands berichteten auch internationale Medien von China bis Panama, zuletzt die New York Times1. Zu erklären ist dies nicht allein mit dem erinnerungskulturellen Fokus rund um den 75. Jahrestag des deutschen Pogroms. Vielmehr sind zwei Besonderheiten des neuen Mediums Twitter entscheidend für den Erfolg eines solchen Public History-Projektes, die es zu einer wertvollen Ergänzung von etablierten Vermittlungsformen machen.
Geschichts-Kommunikation ohne Hürden
Ein Twitteraccount bietet – im Gegensatz zum Weblog oder zur Website oder analogen Medien – mindestens zwei wesentliche Vorteile: Da wäre zum einen die niedrige Partizipationshürde. Ausgehend von der Grundannahme, nur Twitternutzer oder Menschen mit der Bereitschaft, sich dort zu registrieren, erreichen zu können, ist die Rezeption für diese Zielgruppe äußerst einfach: Es genügt ein Klick. Da Twitter durch sog. Replies, Retweets und Favs mittlerweile zu einem stark wechselseitig ausgerichteten Kommunikationsmedium geworden ist, fallen dort auch viele Hürden, die ein direktes Feedback zu den HistorikerInnen sonst erschweren: Eine Antwort in 140 Zeichen erfordert weniger Mühe und Überwindung als eine Mail, ein Kommentar oder ein Brief. Im Projektfortschritt von @9Nov38 war dies leicht zu erkennen: Unter einzelnen Tweets entsponnen sich längere Diskussionen, in die sich immer mehr LeserInnen einschalteten. Es wurden Rückfragen gestellt oder tradierte Familiengeschichten zu den Novemberpogromen geschildert. Nach einigen Tagen begannen Nutzer, die Tweets simultan ins Englische, Spanische, Türkische und Kurdische zu übersetzen. Andere gaben Anregungen oder verlinkten mit Verweis auf den Nutzernamen @9Nov38 Artikel, Fotos und Quellen. Wir erhielten Privatnachrichten und später auch E-Mails von Menschen, die nun die eigene Familiengeschichte im Nationalsozialismus nachvollziehen, vielleicht sogar erforschen wollten und um Starthilfe baten.2 In diesem Sinne wurde @9Nov38 zu einem gegenseitigen Austausch über historische Prozesse zwischen HistorikerInnen und einer interessierten, digital aktiven Teilöffentlichkeit.
Einwände und Bedenken
Über die Nachteile von Twitter, ob mit oder ohne geschichtswissenschaftlichen Kontext, ist schon viel gesagt worden – auch zu @9Nov38 3. 140 Zeichen sind sehr wenig, um komplexe Sachverhalte darzustellen, Kontextualisierung, die sich die Historikerzunft als Markenkern zuschreibt, kann kaum erfolgen. Das Projekt muss man allerdings in seiner Gänze betrachten – es umfasst momentan 665 Tweets mit über 77.000 Zeichen. Dies entspricht 51 Normseiten – dazu werden auch noch weiterführende Blogeinträge und Quellen veröffentlicht. Wer unser Projekt aufmerksam verfolgt, liest also im nebenbei einen Text von der Länge eines wissenschaftlichen Aufsatzes. Ein weiterer Vorwurf, der angebracht wurde, war, dass wir Geschichte auf eine Abfolge von Einzelereignissen reduzieren, auf ein Auflisten dessen, wie es, frei nach Ranke, „eigentlich gewesen“ sei. Um dies zu vermeiden, richteten wir die Homepage4 ein, auf der wir das Projekt erklären, Zusatzinformationen und Kontext liefern sowie Originalquellen veröffentlichen. Sie diente der weiteren, kontextualisierenden Information.
Potenzial: Zeit als Raum
Neben der leichteren Partizipation bietet Twitter ein mediales Wesenselement, das es von anderen Vermittlungsformen unterscheidet: Die Zeit als Raum der historisierenden Nachzeichnung. Während Bücher und Aufsätze genau in jener Zeit erfahren werden, die sich der Leser nimmt, müssen Filmproduktionen eine Handlung in die Länge der Sendung einpassen. Fiktive Realzeitformate wie die TV-Serie ‚24‘ bilden dort eine Ausnahme, die auf Dokumentationen bisher nicht angewendet wurde. Twitter und dementsprechend auch ‚Heute vor 75 Jahren‘ war mehrere Tage rund um die Uhr aktiv. Seine Wirkung entfacht diese Zeitlichkeit in erster Linie durch die Frequenz: Viele Leser teilten später mit, in der Nacht von Samstag auf Sonntag nicht ins Bett gegangen zu sein, weil sich der Abstand zwischen einzelnen Tweets derart verkürzt hatte, dass sich ein Eindruck der zeiträumlichen Dimension der reichsweiten Pogrome einstellte:
Dieses Mittel, über Tage und Wochen in verschiedenen Veröffentlichungsfrequenzen zu arbeiten, ist natürlich problematisch. Noch mehr als andere Inhalte stellt es eine nachträgliche, inszenierende Konstruktion dar, die bei der Konzeption stets zu hinterfragen ist. Uns bot sich allerdings so die Gelegenheit, die Ereignisse über einen längeren Zeitraum inklusive Vor- und Nachgeschichte zu schildern, eine zeitliche Verkürzung hingegen wäre unangebracht gewesen. Sie hätte auch unserem Anspruch, wissenschaftlich korrekt zu arbeiten, widersprochen. Im Dezember werden wir jeden Tweet mit einer Quellenangabe aus der Forschungsliteratur belegen. Durch die Aufnahme von @9Nov38 in das Dossier einer internationalen Nachrichtenagentur wurde das Projekt zu einem medialen Teil des offiziellen deutschen Gedenkens.
Twitter-Chancen
Twitter kann also – mit derselben Sorgfalt und kritischen Distanz wie jedes andere nichtwissenschaftliche Medium eingesetzt – eine wertvolle Ergänzung zur bisherigen populären Geschichtsvermittlung sein. Es erreicht andere Teilöffentlichkeiten als Fernsehen und Printmedien und lädt mehr als jedes andere Instrument zur Partizipation ein. Hieraus ergibt sich für die Vermittlung, aber auch die Analyse aktueller Geschichtskultur die Notwendigkeit, dass sich Public Historians mit Twitter auseinandersetzen, und es gleichermaßen als Werkzeug wie als Quelle begreifen.
Vgl. Charlotte Bühl-Gramer mit ihrer Außenperspektive
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Literaturhinweise
- Mounier, Pierre: Die Werkstatt öffnen. Geschichtsschreibung in Blogs und Sozialen Medien. In: Haber, Peter / Pflanzelter, Eva (Hrsg.): historyblogosphere. Bloggen in den Geschichtswissenschaften, München 2013, S. 51-60. [DOI= http://dx.doi.org/10.1524/9783486755732.51 ]
Webressourcen
- Homepage des TwHistory Projektes “Heute vor 75 Jahren – @9Nov38“
- Zusammenstellung: Live-Tweeting von Historischen Ereignissen von Michael Schmalenstroer
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Abbildungsnachweis
Screenshot von @9Nov38 (22.11.13, 12.30 Uhr) mit freundlicher Genehmigung der AutorInnen.
Empfohlene Zitierweise
Hoffmann, Moritz / Jahnz, Charlotte / Schmalenstroer, Michael: Twitter – Medium der Geschichtskultur, zum Beispiel @9Nov38 (Akteursperspektive). In: Public History Weekly 1 (2013) 13, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-779.
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- Siehe den Pressespiegel: http://9nov38.de/reaktionen/ ↩
- Eine Zusammenfassung erster Recherchetipps haben wir auf unserem Blog veröffentlicht. ↩
- Dazu u.a. die Äußerungen von Prof. Dr. Martin Schulze Wessel und Georgios Chatzoudis ↩
- Homepage von „Heute vor 75 Jahren – @9Nov38“ ↩
Categories: 1 (2013) 13
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-779
Tags: Anniversary (Jubiläum), Digital Change (Digitaler Wandel), Twitter
TwHistory: Die Utopie der sanften Aufklärung und das Lob des Experiments
Vor drei Tagen bat mich die Redaktion von Public History Weekly per Email um eine kurze Stellungnahme zur laufenden Debatte über TwHistory. Erlaubt sein sollten bis zu 5.000 Zeichen, immerhin 35 Twittermeldungen. Während also in der Wirtschaft über emailfreie Tage diskutiert wird, sehen sich die habituell eher entschleunigten Historiker plötzlich der Herausforderung einer neuen Beschleunigungsdynamik ausgesetzt, die Reaktionen in Echtzeit erwartet. Jetzt erst mal einen Kaffee.
Aber was tut sich da auf Twitter? @9Nov38 hat sich inmitten der routiniert ablaufenden jährlichen Gedenkrituale zur Reichspogromnacht zu einem Überraschungserfolg entwickelt, und die Art und Weise dieses Projekts verdient zunächst Applaus. Dort ist nämlich das geschehen, was seit den Anfängen der Public-History-Bewegung immer wieder gefordert wurde, nämlich die Abkehr vom Top-down-Ansatz der Geschichtsvermittlung zu einem (mehr oder weniger) interaktionistischen Modell. Idealerweise verkünden also nicht mehr länger professionelle Historiker priesterartig historische Wahrheiten, vielmehr werden Interventionen und Aktionen der Laien gleichberechtigt. Die netzwerkartige Struktur von Twitter eignet sich dazu hervorragend. Es ist beeindruckend zu sehen, wie die auf @9Nov38 verbreiteten Meldungen verbreitet und verarbeitet wurden bis hin zu Übersetzungen in verschiedene Sprachen. Menschen, die von der offiziellen Gedenkkultur vermutlich kaum erreicht werden, artikulierten sich hier mit großer Neugier und Engagement, und das ist in jedem Fall ein Gewinn.
Entsteht hier also eine neue historische Schwarmintelligenz? Welche Chancen und Probleme bietet dieses Medium? Dies ist nicht leicht zu beurteilen. Je nachdem, ob man @9Nov38 zeitgleich verfolgte oder ob man sich die Beiträge insgesamt im Nachhinein durchliest, verändert sich das Bild: Der Eindruck der Synchronizität weicht dabei dem der Narrativität. Zugleich verändert sich die Perspektive, je nachdem ob man die Beiträge linear als geschlossenes Narrativ durchliest oder ob man sich in die netzwerkartige Struktur der Beiträge hineinbegibt, die in ganz unterschiedliche Richtungen führen kann. Gleichwohl entsteht insgesamt der Eindruck, dass im Rahmen der einzelnen Tweets eher auf Betroffenheit durch Benennung einzelner schockierender Vorgänge als auf Analyse und Erklärung gesetzt wird: Das Ereignis entfaltet sich als Tragödie, bei dem sich Herschel Grynszpan und Adolf Hitler als Antagonisten gegenüber stehen. Das Historikerteam, das hinter @9Nov38 steht, hat dies gesehen und deshalb kontextualisierende Angebote geschaffen, die auch Angebote zur Quellenkritik einschließen.
Auch mit einem zweiten Problem dieser Form haben sie sich auseinandergesetzt, nämlich mit dem Konflikt zwischen der durch das Medium geschaffenen Illusion des Dabeiseins einerseits und der distanzierenden Operation der Geschichtswissenschaft andererseits.
Dies führt aber zu einem generellen Problem, das sich auch bei klassischen Online-Foren stellt: Wie wird die Qualität der Beiträge und des daraus entstehenden Bedeutungsgeflechts gesichert? Und vor allem, wie geht man mit beleidigenden, verletzenden oder anderen problematischen Beiträgen um? Und wie verhält man sich dazu, dass derartige Foren von staatlichen wie nicht-staatlichen Akteuren mittlerweile gezielt beeinflusst werden? Das Ideal der freien und ungesteuerten Kommunikation wird nach einer kreativen Anfangsphase meist bald herausgefordert, da neue Medien gezielt genutzt werden, um Meinungstrends zu beeinflussen. Das gilt nicht zuletzt für geschichtspolitisch umstrittene Themen. Man stelle sich einmal vor, was passieren würde, falls jemand auf die Idee käme, etwa ein ähnliches Projekt unter dem Account “@Armen_Genozid” auf Twitter zu starten.
Solche geschichtspolitische Kontroversen laufen ohnehin im Netz und anderswo ab. Aber im Rahmen einer TwHistory stellt sich die Frage insofern anders, als hier das Verhältnis von professionellen Historikern und Laien betroffen ist: Wie gehen erstere also damit um, wenn die Eigendynamik des Mediums dazu führt, dass eine derartige Initiative in eine wissenschaftlich, ethisch oder politisch nicht mehr akzeptable Richtung führt? Anders gesagt: Wie geht man mit dem Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlich kontrollierbaren Aussagen und dem weiter gefassten Rahmen der Meinungsfreiheit um? Was geschieht, wenn auch letzterer überschritten wird? Und wer entscheidet dies?
@9Nov38 funktionierte als mildes Aufklärungsregime, innerhalb dessen die Initiatoren durch zusätzliche Informationsangebote und Erläuterungen das Maß an historischer Reflexion zu beeinflussen suchten. Man muss kein Kulturpessimist oder Gegner sozialer Medien sein um sich zu fragen, wie lange ein solches Regime hält, wenn weniger kanonisierte Themen zum Gegenstand solcher Initiativen erhoben werden. Das ist kein Grund dafür, so etwas nicht zu versuchen. Aber vielleicht wäre es besser, den Charme des gelungenen Experiments zu feiern als hier ein neues Genre zu institutionalisieren.