Urlaub von der Geschichte? Historisches Denken in der Reisezeit

 

Abstract: Die Urlaubszeit ist vorbei. Jetzt lohnt sich eine kritische Rückschau auf den Sommer und die Begegnungen mit Geschichte im Urlaub. Ich stolperte im Juli im Hongkong Museum of History in der ur- und frühgeschichtlichen Abteilung auf eine Interpretation, welche mir zwar zugänglich war, mich jedoch zum Nachdenken anregte. Vor einer Vitrine mit Keramikfunden aus dem Neolithikum am südchinesischen Meer wurde von der Museumsführerin erklärt, dass es sich hierbei um einige der ersten Keramikfunde handelt, welche bereits sehr früh auf die spätere große Tradition der weltbekannten chinesischen Keramiken verweisen würden. Ist es auch zulässig, dies für eine bekannte im oberösterreichischen Salzkammergut ansässige Keramikmanufaktur zu behaupten? Funde aus der Eiszeit würden dies auch für den österreichischen Fall dokumentieren. Ein Blick von außen, vielleicht sogar aus einem anderen Kulturkreis, ermöglicht es eben, die Besonderheiten von Erzählungen über die Vergangenheit wahrzunehmen und mit der nötigen Distanz zu hinterfragen.
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-338.
Languages: Deutsch


Die Urlaubszeit ist vorbei. Jetzt lohnt sich eine kritische Rückschau auf den Sommer und die Begegnungen mit Geschichte im Urlaub. Ich stolperte im Juli im Hongkong Museum of History in der ur- und frühgeschichtlichen Abteilung auf eine Interpretation, welche mir zwar zugänglich war, mich jedoch zum Nachdenken anregte. Vor einer Vitrine mit Keramikfunden aus dem Neolithikum am südchinesischen Meer wurde von der Museumsführerin erklärt, dass es sich hierbei um einige der ersten Keramikfunde handelt, welche bereits sehr früh auf die spätere große Tradition der weltbekannten chinesischen Keramiken verweisen würden. Ist es auch zulässig, dies für eine bekannte im oberösterreichischen Salzkammergut ansässige Keramikmanufaktur zu behaupten? Funde aus der Eiszeit würden dies auch für den österreichischen Fall dokumentieren. Ein Blick von außen, vielleicht sogar aus einem anderen Kulturkreis, ermöglicht es eben, die Besonderheiten von Erzählungen über die Vergangenheit wahrzunehmen und mit der nötigen Distanz zu hinterfragen.

Soll man sich damit beschäftigen?

Man könnte sich an dieser Stelle fragen, ob diese Umstände von geschichtsdidaktischer Relevanz sind. Sind es nicht ganz andere Probleme, die im Rahmen des schulischen historischen Lernens zu erörtern wären? Wozu sollten SchülerInnen mit unausgewogenen, einseitigen historischen Interpretationen, noch dazu vielleicht aus der Hand der Tourismusbranche oder Werbefachleuten konfrontiert werden? Die Antwort ist aus geschichtsdidaktischer Perspektive schnell zur Hand. Es handelt sich dabei eben um einen besonderen Bereich der Geschichtskultur, auf den Kinder und Jugendliche auch noch als Erwachsene stoßen werden. Es sind lebensweltlich relevante, im Morgen und bereits im Heute auftretende Aspekte eines Umgangs mit der Vergangenheit. Die Potenziale dieser Begegnungen mit Geschichte, wie sie im Umfeld touristischer Angebote auftreten, finden jedoch derzeit im schulischen Lernen erst wenig Beachtung. Anregungen wie jene von Bodo von Borries aus dem Jahr 2006, nämlich Schulbuchkapitel neu zu strukturieren (z.B. „Geschichte im Tourismus“ am Beispiel Altägypten), fanden bis dato keinen wirklichen Widerhall.1

Urlaub als Ausnahmesituation

„Geschichte im Urlaub“ meint eine besondere Situation, in die sich viele SchülerInnen und andere Reisende begeben. Dabei wird die Darstellung der Vergangenheit eben oft in einer uns fremden Kultur offenbar. Dies bietet den besonderen Blick auf das Andere und seine historische Positionierung zwischen urlaubsbedingter Flüchtigkeit und entspannter Wahrnehmung. Es könnte sich daher lohnen, die eigene Region oder typische Urlaubsregionen über touristische Materialien zu erforschen, um sie auf historische Sinnbildungsmuster, die Verwendung von historischen Mythen und Legenden, Werbestrategien unter Einbeziehung von historischen Aspekten etc. hin zu untersuchen. So könnte man etwa danach fragen, warum eine slowenische Hotelkette auf die römische Antike setzt, um neue Gäste anzusprechen2 oder warum in Wien in einem Kellergewölbe eine 5D-Zeitreise durch die Stadtgeschichte TouristInnen anzieht.3 Die Gemachtheit von solchen touristischen Angeboten führt dabei tief in die jeweilige Geschichtskultur, aber auch in die Vergangenheit der Orte. Ziel sollte es jedoch sein, historisches Denken und interkulturelle Haltungen zu schulen, welche auf andere Beispiele transferierbar bleiben.

Urlaub zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Auf einer methodischen Ebene würde dies bedeuten, die sich „im Urlaub“ auftuende Distanz zum Fremden und zum Eigenen produktiv zu nutzen. Es gilt dabei, gattungsspezifische Reflexionen zu tätigen, welche danach fragen, wer uns in einem bestimmten Fall was und warum über die Vergangenheit erzählt, wie die verfügbaren historischen Quellen im Sinn der Multiperspektivität auch legitim anders gedeutet werden könnten und welche ästhetischen Überformungen den Blick auf die Vergangenheit lenken uvm. Besonders spannend werden derartige Analysen vermutlich dann, wenn man touristisch inszenierte Darstellungen anderen historischen Narrationen zum gleichen Sachverhalt gegenüberstellt und sich dadurch Fragwürdigkeiten auftun.

Das Leben der Anderen … und der Vergangenen

In der interkulturellen Begegnung geht es darüber hinaus um ein Einordnen der getätigten Aussagen über die Vergangenheit, um mit Mitgliedern anderer Kulturen in eine kritische Diskussion darüber eintreten zu können. Die eigene Perspektive auf das Problem gilt es stets zu berücksichtigen. Damit sollte eben auch ein historisch-politisches Lernen verstärkt berücksichtigt werden, um die hinter den Beispielen liegenden politischen und gesellschaftlichen Perspektiven der jeweiligen Gegenwart miteinzubeziehen. Man könnte etwa danach fragen, wem eine bestimmte Art der Darstellung der Vergangenheit einen Vorteil bringt. Dabei sind wirtschaftliche Interessen einer Region oder historische Identitätsmuster ebenso in den Blick zu nehmen wie die Reisenden selbst. Letztere möchten nicht selten mit vorgefertigten trivialen bis naiven Vorstellungen an bestimmten Orten unreflektiert bestimmte Inszenierungen konsumieren. Realitätsverschiebungen, Vorurteile, Auslassungen, Umdeutungen, Maskeraden etc. sind dabei mancherorts zentrale Magneten eines Umgangs mit Geschichte, um vor allem das Erwartete aus einer mit dem Ort assoziierten historischen Epoche zu bieten. Kulturspezifische Darbietungsmodi und Interpretationen bilden dazu überraschende Ergänzungen.

Urlaub in den Schulalltag integrieren

Diese sicherlich wichtigen Aspekte sollte man jedoch für den konkreten Unterricht ausreichend wenden. Der Lebensweltbezug für die SchülerInnen sollte dabei nicht aus dem Auge verloren werden. Ist es ein Ziel, dass SchülerInnen sich ein kritisches historisches Denken aneignen, dann wird es darauf ankommen, geschichtskulturelle Produkte auch tatsächlich zu durchdenken und zu hinterfragen. Dabei steht etwa das Störtebekerdenkmal in Hamburg, an dem TouristInnen im Hafen vorbeigeschleust werden, ebenso im Programm, wie Werbekataloge für Schlösser oder andere touristische Inszenierungen der Vergangenheit, wie man auf sie etwa in Funparks trifft. Dazu zählen sicherlich auch gedruckte oder digitale Reiseführer, welche neben geografischen und kulturellen Zusammenhängen Geschichte präsentieren. Gerade dort findet man oft seltsame Ausprägungen an tradierter Einseitigkeit, welche gerade dazu einladen, durch kritisches Denken Grundprinzipien eines reflektierten Geschichtsbewusstseins zu erwerben.

Ein Hoch auf die Globalisierung

„Geschichte im Urlaub“ als Anwendungsgebiet für den Erwerb eines kritischen historischen Denkens zu nutzen, bedeutet den bisherigen geschichtskulturellen Blick des schulischen Lernens zu weiten. Unzählige neue Beispiele, die je situationsabhängig in den Unterricht integrierbar sind, drängen sich dabei auf. Die sich globalisierende Welt und ihre Digitalisierung erleichtern dabei die reale und virtuelle interkulturelle Begegnung mit Geschichte: ein Labor an zu durchdenkenden Beispielen von ganz anderen Orten des Globus, an denen sich die Menschen ganz andere Geschichten über die Vergangenheit erzählen als zu Hause. Es gilt daher, die SchülerInnen auf ein Leben vorzubereiten, das vielleicht ganz abseits vom traditionellen Kanon des Geschichtsunterrichtes mit touristischen Darstellungen der Vergangenheit konfrontiert wird. Dies geschieht dann vermutlich ganz heimlich, oft dicht und unerwartet, nämlich auf Urlaub.

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Literaturhinweise

  • Frank, Sybille: Der Mauer um die Wette gedenken. In: Kühberger, Christoph / Pudlat, Andreas (Hrsg.): Vergangenheitsbewirtschaftung. Public History zwischen Wirtschaft und Wissenschaft,  Innsbruck u. a. 2012, S. 159-172.
  • Isenberg, Wolfgang (Hrsg.): Lernen auf Reisen? Reisepädagogik als neue Aufgabe für Reiseveranstalter, Erziehungswissenschaft und Tourismuspolitik, Bensberg 1991 (Bensberger Protokolle 65).
  • Mütter, Bernd: Historisches Reisen und Emotionen. Chance und Gefahr für die geschichtliche und politische Erwachsenenbildung. In: Mütter, Bernd / Uffelmann, Uwe (Hrsg.): Emotionen und historisches Lernen: Forschung, Vermittlung, Rezeption, Frankfurt a.M. 1992 (Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Bd. 76).

Webressourcen

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Abbildungsnachweis

(c)Christoph Kühberger, Ur- und frühgeschichtliche Abteilung des Hongkong Museum of History, im Juli 2013.

Empfohlene Zitierweise

Kühberger, Christoph: Urlaub von der Geschichte? Historisches Denken in der Reisezeit. In: Public History Weekly 1 (2013) 6, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-338.

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  1. Borries, Bodo von: Schulbuch-Gestaltung und Schulbuch-Benutzung im Fach Geschichte. Zwischen empirischen Befunden und normativen Überlegungen. In: Handro, Saskia / Schönemann, Bernd (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung, Münster 2006, S. 39-51.
  2. http://www.sava-hotels-resorts.com/de/ptuj/familienurlaub/krieger-primus/.
  3. http://www.timetravel-vienna.at/.

Categories: 1 (2013) 6
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-338

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  1. Geschichte nach dem Urlaub – ein Kommentar zu Christoph Kühberger

    „Historisches Denken in der Reisezeit“, so erklärt Christoph Kühberger, werde zwar von zahlreichen „unausgewogenen, einseitigen historischen Interpretationen, noch dazu aus der Hand von der Tourismusbranche“ beeinflusst, doch beinhalteten gerade diese Interpretationen erhebliches Lernpotential für den Geschichtsunterricht. Da sich die im Folgenden entfaltete Argumentation dementsprechend vor allem mit historischem Denken nach der Reisezeit auseinandersetzt, wird der Leser durch die Überschrift zwar zunächst auf eine falsche Fährte gelockt, doch handelt es sich insgesamt um einen Beitrag, dem in vielerlei Hinsicht zuzustimmen ist.

    In der Tat begegnen jugendliche und erwachsene Urlauber während ihrer Reise geschichtskulturellen Medien und Institutionen unterschiedlichster Ausformungen, die von der Museumsführung bis zum historisierten Übernachtungserlebnis in der genannten Hotelkette reichen. Schülerinnen und Schüler auf einen mündigen, kritischen Umgang mit solchen geschichtskulturellen und Freizeit- und Deutungsangeboten vorzubereiten, ist ohne Zweifel eine wichtige Aufgabe modernen Geschichtsunterrichts. Ebenso wertvoll ist Kühbergers Hinweis auf das große heuristische Potential touristischer Werbematerialien mit historischem Inhalt. Wenn er vorschlägt, im Geschichtsunterricht „die eigene Region oder typische Urlaubsregionen über touristische Materialien zu erforschen, um sie auf historische Sinnbildungsmuster […] hin zu untersuchen“, verweist er zu Recht auf eine nützliche Quellengattung geschichtskultureller Analysen, die zudem in der Regel leicht zu erschließen ist. In methodischer Hinsicht ist Kühberger unter anderem an einem analytischen Vergleich verschiedener „touristisch inszenierte[r] Darstellungen […] zum gleichen Sachverhalt“ gelegen – der Nutzen eines solchen Verfahrens hinsichtlich der Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins kann getrost als konsensfähig bezeichnet werden.

    Und doch liegt genau hierin das Problem in Kühbergers Artikel: Einige seiner Aussagen über die Integration touristisch geformter geschichtskultureller Phänomene in schulisches historisches Lernen sind so wahr wie trivial. Wer würde beispielsweise ernsthaft bezweifeln wollen, dass historisches Lernen mit Geschichtskultur erst unter Bezugnahme auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler gelingen kann? Ein anderes Beispiel: Die hier geforderte Befähigung der Schülerinnen und Schüler zu einer kritischen Reflexion über geschichtskulturelle Deutungsmuster ist längst schon Bestandteil aller geschichtsdidaktischen Kompetenzmodelle und wird im Pandel’schen Entwurf gar als eigene, „geschichtskulturelle“ Kompetenz ausgewiesen.

    Insgesamt scheint Kühberger damit das Innovationspotential seines Ansatzes zu überschätzen, wenn er resümierend von der Geschichtsdidaktik fordert, „den bisherigen geschichtskulturellen Blick des schulischen Lernens zu weiten“ und auch touristisch geprägte Angebote der Geschichtskultur zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Schon in der längst klassisch gewordenen Definition des Forschungsgegenstandes der Geschichtsdidaktik vom „Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft“ ist dieser weite Blickwinkel konzeptionell angelegt, seither in vielfältigen Studien erforscht und mit zahlreichen Unterrichtsvorschlägen pragmatisch gewendet worden. Exemplarisch für geschichtskulturelle Forschungen, die auch vielfältige Anregungen für eine Integration derartiger Phänomene in den Geschichtsunterricht ermöglichen, sei hier nur auf das von Gerhard Paul herausgegebene „Jahrhundert der Bilder“ hingewiesen. Zudem erweist sich der Begründungszusammenhang dieses Innovationsanspruchs in methodischer Hinsicht als problematisch. So lässt sich die fehlende Berücksichtigung des Themenfelds „touristisch geprägte Geschichtskultur“ im Unterrichtsalltag wohl kaum mit einem Verweis auf dessen weitgehendes Fehlen in den aktuell verwendeten Schulbüchern belegen. Schüler-, gegenwarts- und problemorientierter Geschichtsunterricht, so bleibt zumindest zu hoffen, greift auch ohne entsprechende Anregungen im Schulbuch nach dem Ende der Ferien (historisch geprägte) Urlaubserfahrungen der Schülerinnen und Schüler auf und regt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen an.

    So bleibt viel von dem Gesagten richtig und wichtig: Urlaubserfahrungen besitzen oft einen lang anhaltenden Nachklang in der persönlichen Erinnerung. Eine Sensibilisierung für Entstehungsprozesse geschichtskultureller Produkte sowie deren politische, kognitive, ästhetische und ökonomische Dimensionen kann dabei helfen, die Umwelt (zu Hause und im Urlaub) mit anderen Augen zu sehen. Wirklich neu ist das allerdings nicht.

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